Publikation Gesellschaftstheorie - Sozialismus Viermal Dialektik unterwegs zum Sozialismus

Der Weg zum Sozialismus ist gepflastert mit Widersprüchen. Dieter Klein über mögliche Fortschritte durch grundsätzliches Hinterfragen.

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Dieter Klein,

Erschienen

August 2018

Der Weg zum Sozialismus ist gepflastert mit Widersprüchen.

Das Nächstliegende beim Nachdenken über Sozialismus ist, wie erst einmal der Trend nach rechts in eine Fahrt nach links gedreht werden kann. Das Schwierige am Sozialismus ist vorläufig, wie man überhaupt in seine Richtung kommt. Der Weg zu ihm ist ein Balanceakt, gepflastert mit Widersprüchen.

Erstens: Dialektik von kleinen Schritten und großen Brüchen

Der große Wurf, der unmittelbare Übergang vom neoliberalen Kapitalismus zu einem demokratischen Sozialismus in einem einzigen Akt der Umwälzung aller gegebenen Verhältnisse, wird nicht stattfinden. Wenn es statt nach rechts, wie vielerorts in der Welt, nach links gehen soll, bedarf schon dies fast wundersamer Erneuerung der Linken. Zu mächtig sind die Herrschenden, zu tief die Verinnerlichung ihrer Vorstellungen von der Welt in der Bevölkerung, zu verführerisch die einfachen Angebote der Neuen Rechten, und vor allem: zu groß, zu komplex und zu kompliziert sind die aufgestauten gesellschaftlichen Probleme.

Also werden wir voraussichtlich lange unterwegs sein zum Sozialismus, in einer langen Folge von mehr oder weniger radikalen Teilreform. Linke Strategien müssen auf die Überwindung des neoliberalen Kapitalismus durch einen demokratischeren, sozialeren und mehr umweltorientierten Typ des Kapitalismus gerichtet sein. Das wäre ein ungeheurer Fortschritt gegen die Verbindung des Neoliberalismus mit Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Nationalismus.

Weil der Kapitalismus aber Kapitalismus ist und Dominanz des Profits in Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet, wird selbst ein solcher Wandel – wenn er denn erreicht würde – begrenzt und stets von einem Rollback bedroht bleiben. Allein ein solcher Reformweg wird nicht zum Sozialismus führen.

Gleichwohl – alles progressiv Machbare im Rahmen des Kapitalismus gehört auf die Agenda der pluralen gesellschaftlichen Linken. Aber das reicht nicht aus. Die Großprobleme des 21. Jahrhunderts sind unter dem Vorzeichen des Profits nicht lösbar. Aber der Beginn der Lösung kann nicht bis zum Sozialismus aufgeschoben werden. Existenzfragen für die Menschheit drängen. Schon im Rahmen einer – erst zu erkämpfenden – postneoliberalen kapitalistischen Übergangsgesellschaft wird nach potenziell sozialistischen Ansätzen, Institutionen und Praxen zu suchen sein, um Einstiegsprojekte in eine solidarische Gesellschaft jenseits des Kapitalismus zu entfalten. In die innersystemische  postneoliberale Transformation des Kapitalismus muss, parallel zur Abwehr der Rechten, schon der Einstieg in eine systemüberschreitende Große Transformation hineingeholt werden. Auf solche doppelte Transformation sollte die Strategie der LINKEN zielen. Sie sollte expressis verbis zu einer Transformationslinken werden – was sie bisher nicht ist, nicht konzeptionell und nicht realpolitisch.

Sie sollte sich die Kategorie des «Vor-Scheins» (Ernst Bloch) praktisch aneignen: Die Entfaltung solcher Seiten des Kapitalismus, in denen schon «im Schoße des Kapitalismus» (Marx) der «Vor-Schein» des «Noch-Nicht», des in der Zukunft jedoch real Möglichen aufleuchtet – beispielsweise in der Form von öffentlich-rechtlichem Eigentum und öffentlicher Daseinsvorsorge, des Non-Profit-Sektors, von Unternehmen der Solidargemeinschaft, von Energiegenossenschaften, partizipativen Bürgerhaushalten o.ä..

Mitte-Links-Regierungen haben leider bewiesen, dass sie die Dialektik des Morgen im Heute nicht zum Tanzen zu bringen vermögen. Eine Transformationslinke muss auf eine linke Regierung zielen, die aus den zivilgesellschaftlichen Kämpfen um Projekte der bürgerschaftlichen Selbstermächtigung hervorgehen kann, wenn die Linke dort unterstützend, mobilisierend, organisierend und verbindend engagiert ist.

Zweitens: Dialektik von Mensch und Natur

Der Kapitalismus entwickelt die Produktivkräfte, indem er zugleich die Springquellen des Reichtums zerstört: den arbeitenden Menschen und die Natur. So Marx. Umgekehrt gilt: Jede linke Strategie muss sich wie auf der Bahn einer Parabel um zwei zentrale Angelpunkte drehen, um die Bedingungen für die freie Persönlichkeitsentfaltung einer und eines jeden und um die Bewahrung der Natur.

Wo Aktivisten der Linken vor Ort beispielsweise in den Kämpfen um bessere Personalausstattung im Gesundheitswesen und in den Kitas engagiert sind, wollen sie zunächst ganz einfach Verbesserungen für die dort Tätigen, für die Patienten und die Kinder erreichen. Aber Gesundheit gehört zu den Chancen für ein selbstbestimmtes Leben. Sprachliche und andere Förderung der Kinder trägt zu sozial gleichen Bedingungen ihrer Persönlichkeitsentfaltung bei – zu einem Vor-Schein künftiger humaner Gesellschaft.

Gesundheitseinrichtungen und Kitas gehören zu dem großen Bereich der Sorge für den Menschen, zum Care-Sektor, der soziale Dienste aller Art bis zur Sphäre der Kultur umfasst – ob häuslich in der Familie geleistet oder als Erwerbsarbeit. Aus der Sicht des Parabelbildes betrachtet stehen Care-Arbeit und ökologische Politik in engem Zusammenhang. Eine entschieden stärkere Gewichtung des Sektors der Sorge-Arbeit im Verhältnis zur materiellen Produktion, eine den Löhnen in der Produktion vergleichbarer Gestaltung der Einkommen in der Care-Sphäre, wo überwiegend Frauen benachteiligt beschäftigt sind, und entschieden mehr gesellschaftliche Anerkennung der Tätigkeiten dort – das ist ein wesentlicher Prozess des sozialökologischen Umbaus, mehr Geschlechtergerechtigkeit eingeschlossen.

Per Saldo ist die individuelle Zuwendung zu Menschen weniger ressourcenintensiv und emissionsärmer als die Arbeit in der Produktion. Eine für alle unabhängig von ihren Einkommen gleiche Teilhabe an humanorientierten Dienstleistungen ist Teil des Wandels der Bedürfnisse von überwiegend stofflicher Konsumtion zu nicht oder weniger ressourcenintensiven Dimensionen eines reicheren Lebens im Einklang mit der Natur. Strukturwandel zugunsten des Care-Sektors kann also zu einer wichtigen Seite der Abkehr von imperialen Lebensweisen werden, deren Ressourcenintensität nicht zuletzt durch die Ausplünderung von Ressourcen in ärmeren Ländern möglich ist.

Nahe liegt also eine linke verbindende Politik, die Solidarität fördert zwischen den Kämpfen in der Sphäre humanorientierter Dienstleistungen – ob beispielsweise in der Berliner Charité oder für bessere Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in häuslichen Diensten – und Ökobewegungen. Nicht zufällig wird besonders in feministischen Diskursen dieser Zusammenhang geltend gemacht. Aber allzu oft verlaufen alternative Aktionen in beiden Sphären isoliert voneinander.

Allzu oft betrachtet sich DIE LINKE zwar als zuständig für soziale Kämpfe, ist aber weniger präsent, wenn es um den Erhalt unserer natürlichen Lebensbedingungen geht. Beispielsweise hat die LINKE in der Kohlepolitik der Brandenburger Regierung die beiden Pole moderner linker Politik nicht zusammen bekommen. Und als die Linkspartei in der Kurzfassung ihres Programms zu den Bundestagswahlen die Umweltpolitik schlicht weg ließ, wurde deutlich, dass sie noch weit von einer Parabellinken entfernt ist.

Drittens: Dialektik von Zivilgesellschaft, Markt und Planung

Marx hatte angenommen, mit einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel würden die Menschen ihre individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst wie eine einzige gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. Sie würden ohne größere Schwierigkeiten zu Übereinkünften darüber kommen, wie ihre gemeinsame Arbeitskraft auf die Millionen Produkte und Bedürfnisse aufzuteilen sei.

Als diese angenommene Unmittelbarkeit gesellschaftlicher Arbeit in Gestalt eines staatssozialistischen Zentralismus exekutiert wurde, erwies sich diese Annahme als eine verhängnisvolle Leerstelle im Marx‘schen Denken. Bis heute fehlt der pluralen gesellschaftlichen Linken eine überzeugende Vorstellung davon, wie eine sozialistische Regulationsweise effizient, demokratisch, sozial und ökologisch funktionieren könnte. Sie muss das Kunststück ermöglichen, staatliche strategische Verantwortung, eine starke Mitbestimmung und Eigeninitiative vieler zivilgesellschaftlicher Kräfte und größtmögliche Freiheiten für ein modernes Unternehmertum auf dem Markt in ein produktives Verhältnis zu bringen.

Sie muss, um bei den gegebenen hyperkomplexen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen über die wichtigsten Prozesse Entscheidungen in demokratischen Verfahren zu ermöglichen, die Planungs- und Leitungsgremien von Millionen weniger wichtigen Einzelentscheidungen entlasten. Sie muss eine Komplexitätsreduktion für die politisch Handelnden ermöglichen. Dem selbstregulierenden Markt-Preis-Mechanismus wird daher erhebliches Gewicht zukommen. Aber wie die sozialen Klüfte in der Welt, ökonomische Ungleichgewichte, der Klimawandel, das Artensterben und andere Gefahren zeigen, wirkt der Markt sozial und ökologisch blind und zudem zwar betriebswirtschaftlich meist effizient, aber makroökonomisch vielfach destruktiv.

Staatliche Rahmensetzung, langfristige Planung und staatliche Interventionen in den Wirtschaftsprozess werden daher eine wichtige Säule einer neuen Regulationsweise sein. Der Gefahr zentralistischer bürokratischer Entfremdung wird durch eine radikale Erneuerung der Demokratie zu begegnen sein, durch Transparenz der Verhältnisse, weitgehende Information der Öffentlichkeit, rechtsstaatliche und institutionelle Sicherung bürgerschaftlicher Mitentscheidung weit über Wahlen hinaus.

Die neue Regulationsweise wird sich als fortwährender Such- und Lernprozess entwickeln. Eine permanente Kompromissfindung zwischen den divergierenden Interessen von Individuen, von kollektiven Akteuren sowie gesellschaftlichen Interessen, zwischen lokalen, regionalen und nationalen Interessen, zwischen kurzfristiger und langfristiger Rationalität wird veränderter und neuer Institutionen bedürfen: der Befreiung der Parlamente vom massiven Einfluss privater ökonomischer Macht; ihrer Ergänzung auf allen Ebenen durch Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialräte, die zivilgesellschaftlichen Akteuren Einfluss auf Parlamente, Unternehmen, Kommunen und staatliche Apparate ermöglichen; der Etablierung von Schiedskommissionen, Schlichtungs- und Mediationsverfahren zur Aushandlung der unvermeidlichen Widersprüche; öffentlicher Ratingagenturen unter demokratischer Kontrolle; partizipativer Bürgerhaushalte und ganz gewiss anderer institutioneller Innovationen, die aus praktischen Erfahrungen hervorgehen werden. Eine veränderte Verfasstheit von Parteien und Bewegungen könnte zu einer wechselseitigen Öffnung und ihrem stärkeren Zusammenwirken führen.

Eine neue Regulationsweise wird gravierende Veränderungen der Eigentumsverhältnisse einschließen. Dazu gehören:

  1. Eine Überführung entscheidender wirtschaftlicher Machtressourcen, die Herrschaft über die Gesellschaft ermöglichen, in gesellschaftliches Eigentum (zum Beispiel im Bankensektor, in der Energiewirtschaft, im IT-Bereich, in der Agroindustrie, in netzgebundenen Wirtschaftsbereichen) auf solche Weise, dass im Sinne einer bestmöglichen Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungen und ihrer Kontrolle  «das individuelle Eigentum auf der Grundlage … der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Arbeitsmittel» (Marx, MEW. Bd. 23: 791) wiederhergestellt wird.
  2. Ein erstrangiges Gewicht des Öffentlichen, vor allem der öffentlichen Daseinsvorsorge überall dort, wo eine sozial gleiche Teilhabe einer und eines jeden an Grundbedingungen freier Persönlichkeitsentfaltung unabhängig vom individuellen Einkommen gesichert werden soll.
  3. Privatkapitalistisches Eigentum und Eigentum selbstständiger Handwerker, Dienstleister und Händler, wo die bewegliche Anpassung der volkswirtschaftlichen Feinproportionen an wechselnde millionenfache Bedürfnisse zu sichern ist.
  4. Kommunales und gesellschaftliches Eigentum.
  5. Gemischtes Eigentum.

Sämtliche Eigentumsformen müssen durch staatliche Rahmen und Regelsetzung progressiven sozialen und ökologischen Standards unterworfen werden. Diese werden durch erneuerte Finanz- und Strukturpolitik, Wissenschafts- und Forschungspolitik, Raumordnungs- und Stadtplanung, Umwelt- und Sozialpolitik, feministisch inspirierte, antirassistische und Antidiskriminierungspolitik zu realisieren sein.

Entgegen mancher Plädoyers auch von einigen linken Politikern und Politikerinnen für eine weitgehende Begrenzung der Wirtschaftsregulierung auf den nationalen Rahmen wird die Internationalisierung der Wirtschaftsprozesse den linken Kräften in Europa gemeinsame Kämpfe für die Durchsetzung progressiver internationaler demokratischer, sozialer, ökologischer und kultureller Standards abfordern. Diese werden zumindest eine internationale Abstimmung der Regulierungsweisen und die Abkehr von dem gegenwärtigen austeritätsorientierten Regelmechanismus in der Eurozone und in der EU erfordern.

Viertens: Dialektik von Rationalität und Emotionalität

Menschen sind – wenn leider auch nicht immer – rational denkende und emotionale Wesen. Ernst Bloch schrieb ihnen zu, von einem Kältestrom (nüchterner Rationalität) und von einem Wärmestrom (der Gefühle) bestimmt zu sein. Die Linke, schrieb er, sei zu einseitig auf rationales Denken fixiert. Sie bedürfte mehr der Fantasie, der Empathie, der Fähigkeit zu träumen, der Gefühle, wenn sie die Menschen erreichen will. Heute, da die Neue Rechte verantwortungslos engstirnige Ängste, Hass, aggressive Emotionen und Gewaltbereitschaft in den Menschen für ihre Zwecke schürt, ist es wichtiger denn je, dass die plurale Linke Rationalität, aber eben auch alle positiven Emotionen in den Menschen gegen diese Gefahr zu mobilisieren vermag. Eine moderne Erzählung von einem demokratischen grünen Sozialismus und von den Wegen zu ihm hin, die Rationalität und Emotionalität zusammenführt, könnte erheblich dazu beitragen, dem «Aufstand des Menschen im Menschen» (Johannes R. Becher) zum Sieg zu verhelfen.

Manchmal mag es scheinen, als seien wir durch die Größe der globalen Probleme und Gefahren überfordert. Aber – da antwortete Hermann Hesse auf die Bitte, den chinesischen Moralphilosophen Kung Fu Tse zu charakterisieren: «Ist das nicht der, der genau weiß, dass es nicht geht – und es trotzdem tut?»

 
Dieter Klein (geb. 1931) war als Prorektor u.a. verantwortlich für die Entwicklung einer multidisziplinären Friedensforschung an der Humboldt-Universität. Er förderte das reformkritische Projekt Moderner Sozialismus in der DDR. Nach 1990 war Klein Inhaber des Lehrstuhls Ökonomische Grundlagen der Politik. Heute ist er Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Letzte Buchpublikation: Gespaltene Machteliten. Verlorene Transformationsfähigkeit oder Renaissance eines New Deal. 2016