Publikation Parteien- / Bewegungsgeschichte - Demokratischer Sozialismus - 30 Jahre 89/90 Bruch mit «Stalinismus als System»

Der Außerordentliche Parteitag der SED/PDS. Von Lothar Hornbogen und Detlef Nakath

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Detlef Nakath, Christoph Hornbogen,

Erschienen

November 2009

Das Maß war endgültig voll. Alle im Herbst 1989 von der alten SED-Führung unter Generalsekretär Erich Honecker und seinem kurzzeitigen Nachfolger Egon Krenz unternommenen Versuche, die in der DDR und auch in der SED entstandene Situation in den Griff zu bekommen, zielten im Kern lediglich auf Machterhalt und Konservierung alter, längst überholter Strukturen. Die in dieser Zeit abgegebenen politischen Erklärungen wiesen keinerlei innovative Gedanken auf und trugen lediglich Elemente eines »bewährten« Krisenmanagements. Auf Druck der Parteibasis musste schließlich die gesamte SED-Führung zurücktreten.

Ein kurzfristig konstituierter Arbeitsausschuss der SED begann am 3. Dezember 1989 gegen 16 Uhr – unmittelbar nachdem Politbüro und Zentralkomitee zurückgetreten waren – mit seiner Tätigkeit. Brigitte Zimmermann, Sprecherin des Ausschusses, beschrieb die für viele ungewohnte Situation: »Wir arbeiteten damals zusammen, aber auch jeder für sich, unter den Eindrücken der Stunde und des Tages, die bestimmt waren vom rapiden Zerfall der SED und damit einhergehend, von der Legitimationskrise vieler staatlicher Institutionen in der DDR.« Die entscheidende Aufgabe des Arbeitsausschusses war die Vorbereitung des Parteitages.

Der Außerordentliche Parteitag fand am 8./9. Dezember und 16./17. Dezember 1989 in der Berliner Dynamo-Sporthalle statt. Am Abend des 8. Dezember begann unter im Vergleich zu früheren Parteitagen geradezu chaotischen Umständen um 19 Uhr der von der Basis erzwungene Parteitag.

Als Tagesordnung für die erste Sitzung war die Eröffnungsrede des Arbeitsausschussvorsitzenden Herbert Kroker, die Konstituierung des Parteitages, eine Erklärung von Ministerpräsident Hans Modrow zur Lage in der DDR sowie die Wahl einer neuen Parteiführung vorgesehen. Unter der Versammlungsleitung des damaligen Dresdener Oberbürgermeisters Wolfgang Berghofer fand der erste Teil dieser Sitzung öffentlich statt und wurde in wesentlichen Teilen vom DDR-Fernsehen live übertragen. Erstmals war es nun möglich, die harten und konfliktreichen Debatten innerhalb der SED auf dem Bildschirm zu verfolgen.

Der zweite Teil der ersten Sitzung des Sonderparteitages fand als Nachtsitzung statt. Er begann am 9. Dezember um 1.40 Uhr und war nicht öffentlich. In seinem Verlauf erfolgte die Wahl von Gregor Gysi zum Parteivorsitzenden, die Wahl des Parteivorstandes, des Präsidiums des Parteivorstandes sowie der Schiedskommission unter der Leitung von Günther Wieland. Dem neugewählten, 101 Mitglieder umfassenden Parteivorstand gehörten mit Gerd König, Hans Modrow, Hans-Joachim Willerding und Herbert Richter nur noch vier der ehemaligen ZK-Mitglieder bzw. -Kandidaten an.

Außerdem wurde ein neues Parteistatut angenommen.

Herbert Kroker hatte den Parteitag entsprechend der Festlegung des Arbeitsausschusses mit den Worten eröffnet: »Die Lage im Lande und in der Partei hat uns zu seiner vorfristigen Einberufung veranlasst, obwohl noch nicht alle Dokumente den erforderlichen Arbeitsstand aufweisen. In dieser gesellschaftlichen Situation sieht es der Arbeitsausschuss als lebensnotwendig für unsere Partei an, auf diesem ersten Beratungstag des außerordentlichen Parteitages handlungsfähige Leitungsgremien zu wählen, die durch die Parteibasis legitimiert sind.« Er fügte hinzu: »Es geht auf diesem Parteitag nicht nur um unsere Partei, es geht auch um das Land! Wenn wir uns selbst zerstören, helfen wir mit, das Land zu zerstören, das viele von uns aus Trümmern mit aufgebaut haben. Wenn wir uns spalten, zerstören wir die Hoffnung auf eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft, die wir alle wollen.« Auch Ministerpräsident Modrow forderte unmittelbar nach der Parteitagseröffnung die Delegierten auf, »lasst diese Partei nicht zerbrechen, nicht untergehen, sondern macht sie sauber und stark«.

Die Eröffnung des Außerordentlichen Parteitages fand angesichts der Lage in einer emotional aufgeladenen Situation statt. Dennoch wurde schnell deutlich, dass für die große Mehrheit der Delegierten die neue DDR-Regierung und Ministerpräsident Hans Modrow als allseits akzeptierte Autorität im Lande und in der Partei galt. Aufgrund der Autorität des Ministerpräsidenten verlief seine erste, die Lage in der DDR beschreibende Rede in relativ ruhiger Atmosphäre. Modrow, der noch ein zweites Mal sprach, erinnerte sich an diese Situation: »Auf diesem Parteitag ergriff ich zweimal das Wort, einmal verabredungsgemäß zu Beginn, ein zweites Mal Stunden später, als der Saal zu explodieren und sich alles aufzulösen drohte. Die einen wollten ihr Zögern gleichsam zum Programm erheben, die anderen wollten alles über den Haufen werfen.«

Der spätere Ehrenvorsitzende der PDS und heutige Sprecher des Ältestenrates der Partei DIE LINKE wandte sich in der geschlossenen Nachtsitzung vehement gegen die zu diesem Zeitpunkt mögliche Auflösung oder Spaltung der SED, auch wenn er dies nicht unmittelbar ansprach. Er sah die Partei und ihre Mitglieder in der Verantwortung für die vierzigjährige Entwicklung der DDR und forderte, sich der Verantwortung der Situation zu stellen: »Ich muss hier in aller Verantwortung sagen: Wenn bei der Schärfe des Angriffes auf unser Land dieses Land nicht mehr regierungsfähig bleibt, weil mir, dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, keine Partei zur Seite steht, dann tragen wir alle die Verantwortung dafür, wenn dieses Land untergeht! Die Partei hat den Delegierten mit dem Mandat diese Verantwortung übertragen, und ich bitte euch, Genossen, dass wir jetzt gemeinsam den Weg mit Entschlossenheit gehen, dass unser Land und unsere Partei ihrer Verantwortung vor der Geschichte unseres Landes im Bündnis mit unseren Freunden, jawohl auch für Europa im Frieden, auch dieser Verantwortung gerecht werden.« In der Nachtsitzung entschied sich der Parteitag dann für die Wahl neuer Leitungsgremien.

Am 16. und 17. Dezember 1989 diskutierten die Parteitagsdelegierten vor allem die Referate von Michael Schumann, Dieter Klein (»Über die Neuformierung einer modernen sozialistischen Partei und ihren Beitrag für eine neue sozialistische Gesellschaft«) und Gregor Gysi (»Zu aktuellen Aufgaben der Partei«) und hörten eine bemerkenswerte Gastrede Rudolf Bahros.

Das vom Potsdamer Historiker Michael Schumann am 16. Dezember vorgetragene Referat »Zur Krise in der Gesellschaft und zu ihren Ursachen, zur Verantwortung der SED«, das im »Neuen Deutschland« unter dem Titel »Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!« abgedruckt wurde, markierte mit seinen Aussagen den nachfolgend oft beschworenen »antistalinistischen Gründungskonsens« der PDS. Schumann trug das Referat als Ergebnis von Diskussionen vor, die in einer Arbeitsgruppe des Arbeitsausschusses unter Leitung von Heinz Vietze (siehe DISPUT 9/2009 – d. Red.) geführt wurden. Schumann benannte auf dem Parteitag als wichtigste politische und strukturelle Aufgabe der SED/PDS den Bruch mit dem »Stalinismus als System«. Honecker und seine Umgebung seien auf Gegenkurs zu Perestroika und Glasnost gegangen und begründeten deshalb die Losung vom »Sozialismus in den Farben der DDR«. Heute müsse man, so Schumann, diese Zeit als »Stalinismus in den Farben der DDR« bezeichnen.

Die angestrebte Entwicklung zu einer modernen sozialistischen Partei erschien bereits als Aufgabe, die mindestens das nächste Jahrzehnt dauern könne. Gleichzeitig ist festzustellen, dass eine der Grundfesten der bisherigen Struktur, die »unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion« nicht zur Disposition gestellt werden sollte.

Der Außerordentliche Parteitag der SED/PDS war sowohl in der Geschichte der SED als auch in der Entstehungsgeschichte der PDS ein singuläres Ereignis. Erstmals wurde ein Sonderparteitag von der Basis erzwungen, der zugleich einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit des Staatssozialismus in der DDR und dem strukturellen Stalinismus der SED einforderte. Für die PDS und somit auch für DIE LINKE steht der Außerordentliche Parteitag am Beginn ihrer eigenständigen Geschichte. Während PDS-Politiker wie Lothar Bisky und Klaus Höpcke den Sonderparteitag als »Inaugural-Parteitag« sehen, markierte er zugleich das formale Ende der SED.

Dies geschah vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der zentralistischen Ordnung in der DDR. Zum Zeitpunkt des Parteitags war der Weg in die deutsche Einheit bereits vorstellbar. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt jedoch voraussehen, in welchen Schritten und in welcher zeitlichen Dimension sich dieser Prozess vollziehen würde.

Nach dem Außerordentlichen Parteitag setzten sich Diskussionen und Auseinandersetzungen in der Partei unvermindert fort. Die zentrale Frage lautete: Auflösung der SED und Neugründung einer linken sozialistischen Partei bzw. Reformierung der alten SED-Strukturen innerhalb der »Nachfolgepartei«? Diese Auseinandersetzung erlebte ihren Höhepunkt, als am 21. Januar 1990 der auf dem Sonderparteitag neugewählte Parteivize Wolfgang Berghofer sowie weitere 40 Parteimitglieder, darunter der gesamte Bezirksvorstand Dresden, die SED/PDS verließen. Fast zeitgleich dazu hatte die Schiedskommission der Partei zahlreiche ehemalige Spitzenfunktionäre aus der Partei ausgeschlossen.

Darüber hinaus nahm die Schiedskommission eine Rehabilitierung von in der SED gemaßregelten Parteimitgliedern vor (Walter Janka, Karl Schirdewan).

Der Parteivorstand entschied sich gegen eine von den Vertretern verschiedener innerparteilicher Plattformen geforderte Auflösung und beschloss am 4. Februar 1990 die Umbenennung der SED/PDS in »Partei des Demokratischen Sozialismus« (PDS). Damit waren die ersten Schritte auf dem Wege der Konstituierung einer neuen Partei vollzogen.

Lothar Hornbogen ist Archivar, Dr. Detlef Nakath ist Historiker und Geschäftsführer der Rosa Luxemburg Stiftung Brandenburg. Der Artikel erschien im November 2009 in der Zeitschrift «Disput».