Erste These:
Die aktuelle strategische Situation am Beginn der 2020er Jahre ist durch eine Zuspitzung der Widersprüche neoliberaler Politik charakterisiert. Es entsteht eine Scheidewegsituation.
Die kapitalistischen Hauptländer sind mit gravierenden Problemen konfrontiert:
- Das Auseinanderdriften der Verteilungsverhältnisse kann von der neoliberalen Deregulierungspolitik immer weniger moderiert werden. Schlüsselbereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Lohnarbeit, Wohnen, Bildungsangebote, Gesundheitsversorgung, Pflege und würdige Existenzbedingungen im Alter können von der etablierten Politik nicht mehr gewährleistet werden. Neue Unsicherheiten und soziale Spaltungen treffen auch die Geschlechterverhältnisse sowie das Verhältnis zu Migrant*innen und untergraben Fortschritte einer emanzipativen und geschlechterdemokratischen Lebensweise.
- Die Widersprüche zwischen der gesellschaftlichen wie der individuellen Reproduktion und den Aneignungsexzessen in der Finanzsphäre werden durch den Klimawandel und die unkontrollierten Naturaneignungen zur globalen Existenzkrise gesteigert. Trotz gewaltiger Umbrüche in den Produktionsverhältnissen bringt die schleppende Produktivitätsentwicklung nur ein niedriges und in die falsche Richtung gehendes Wirtschaftswachstum hervor.
- Die Wiederbelebung der ökonomischen Nationalismen zerstört die Nachkriegsordnung. Anstelle einer internationalen Friedensordnung sind wir mit der Akzeptanz von Kriegen als Mittel der Konfliktlösung konfrontiert.
- Die herrschenden Eliten befördern mit ihrer Selbstbereicherung den Eindruck eines Gegensatzes zwischen der breiten Bevölkerung und korruptem Establishment und bereiten so den Nährboden für Rechtspopulismus und autoritäre Herrschaftsstrukturen. Die Erosion demokratischer Strukturen ist weit fortgeschritten. Das Vertrauen in die Fähigkeit, mit den bisherigen demokratischen Mitteln die aufgestauten Probleme zu lösen, sinkt.
Von zahlreichen sozialen Bewegungen und Initiativen sowie Gewerkschaften werden machtpolitische Alternativen eingefordert, um Schritte in Richtung einer emanzipativen demokratischen Gesellschaftsordnung gehen zu können, die den Interessen und Ansprüchen der Vielen gerecht werden.
Die Frage ist nicht, ob sich ein Richtungswechsel der Politik vollzieht, sondern in welche Richtung er gestaltet wird. Wir sehen drei wesentliche strategische Optionen:
- Erstens wird versucht, das «Weiter-So» fortzusetzen. Die Koalitionen auf Bundesebene seit 2005 sind Ausdruck dieser Option.
- Die zweite Option ist die Offensive der dezidiert rechten Kräfte. Sie nutzen die Schwäche der herrschenden Strategie des «Weiter-So» aus. Ihre Vorschläge scheinen machbar: ein Festungs-Kerneuropa mit Schutzversprechen nach Innen und menschenverachtender Abwehr nach Außen. Ein autoritärer Kapitalismus mit scheindemokratischer Fassade ist möglich.
- Mittlerweile ist eine dritte Option im Entstehen. Es haben sich starke demokratische Gegen- und Alternativbewegungen gebildet. Die Demonstrationen gegen TTIP, für solidarische Seebrücken, Unteilbar, Fridays for Future und die ständigen Proteste gegen die Aufmärsche der Neuen Rechten, neue Formen von Streiks, die Bewegung zur Enteignung großer Wohnungskonzerne oder für die Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, gegen die Kohleverstromung, gegen Militarisierung usw. zeigen: Es bewegt sich etwas. Dies konnte die Partei DIE LINKE in einigen Bundesländern als Opposition oder in Regierungsverantwortung befördern.
Zweite These:
Die Partei DIE LINKE muss sich als offensive mobilisierende, organisierende und integrierende politische Kraft des sozialökologischen Richtungswechsels der Politik bewähren.
Die Schlüsselfrage für den erforderlichen sozialökologischen Richtungswechsel ist: Wird es die gesellschaftliche Linke schaffen, das Unbehagen und die Proteste aus der Bevölkerung aufzugreifen und die politische Krise in die Chance eines gesellschaftlichen Aufbruchs zu verwandeln. Es kann sein, dass dafür jetzt auch die parteipolitischen Voraussetzungen entstehen. In das Zentrum der Politik der SPD rückt wieder die soziale Frage. Auf dem Gebiet von Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt es Ansätze. Auch die Grünen haben ihre Politik präzisiert. Sie sprechen jene an, die den Glauben an die vorherrschende verknöcherte Politik des europäischen Establishments verloren haben, die nationalistisch-populistische Reaktion darauf aber ablehnen. Sie treten für eine stärkere ökologische Wirtschaftsregulation ein und haben sich sozialen Fragen zugewendet. Welche Tendenzen sich in diesen Parteien durchsetzen, hängt maßgeblich von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. DIE LINKE muss solche fortschrittlichen Entwicklungen aufgreifen und sich zugleich für eine sozialökologische Transformation einsetzen, die die Grenzen kapitalistischer Verwertungslogik überschreitet.
Die Partei DIE LINKE muss aus einer Verteidigerin sozialer Interessen in Zeiten der Defensive zu einer Vorkämpferin für eine umfassende sozialökologische Transformation und eine neue internationale Politik werden. Dies ist ihre neue strategische Funktion. Diese Funktion kann DIE LINKE erstens nur gemeinsam und arbeitsteilig mit den emanzipatorischen und solidarischen Kräften der Zivilgesellschaft entwickeln. Zweitens bedarf es der parteipolitischen Kooperation mit SPD und Grünen, um in den Ländern und im Bundestag eine neue Mehrheit für den sozialökologischen und friedensorientierten Richtungswechsel herzustellen. Dies verlangt von allen die Bereitschaft, mit bestimmten Regeln der Europäischen Union dann zu brechen, wenn sie einer sozialökologischen Transformation diametral entgegenstehen. Es muss gemeinsam ein neues Verständnis von Sicherheit und internationaler Verantwortung entwickelt werden.
Daraus folgen vier weitere Anforderungen:
- Erstens sollte DIE LINKE ihre Potenziale als verbindende, Lager überwindende und Solidarität stiftende Kraft zum Einsatz bringen. Wir halten die Entgegensetzung von urbanen zivilgesellschaftlichen Milieus auf der einen und traditionellen «Arbeitermilieus» auf der anderen Seite für falsch. Es geht um ein solidarisches Mitte-Unten-Bündnis.
- Zweitens muss die Linkspartei darum kämpfen, dass ein zukunftsorientiertes politisches Gesamtprojekt entsteht, als deren unverzichtbarer Teil sie sich erweist.
- Drittens: Ein übergreifendes Projekt der LINKEN ist die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse. Angesichts des Aufstiegs der extremen Rechten hat dieses Projekt noch an Dringlichkeit gewonnen.
- Viertens: Ein wirklicher Richtungswechsel verlangt Kampfgeist, Überzeugung, harten politischen Willen, Veränderungen in der Organisations- und Arbeitsweise sowie die Bereitschaft, sich heftigen Auseinandersetzungen zu stellen.
Dritte These:
Die Partei DIE LINKE muss mit ihrem Wahlkampf für die Bundestagswahl 2021 die Option eines sozialökologischen und friedensorientierten Richtungswechsels stärken. Die Bedingungen dafür sind eine breite gesellschaftliche Mobilisierung, die gemeinsame Erarbeitung eines Programms für einen politischen Richtungswechsel sowie neue parlamentarische Mehrheiten. Wir streben einen Regierungswechsel an, der den Richtungswechsel befördert.
Die Bundestagswahlen 2021 könnten sich als letzte Chance des kommenden Jahrzehnts herausstellen, die Weichen für einen sozialökologischen Richtungswechsel zu stellen. Die Vorbereitung und Durchführung des Wahlkampfs, beginnend mit dem Erfurter Parteitag der LINKEN im Juni 2020, ist entscheidend. DIE LINKE muss gemeinsam mit anderen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, das vorhandene linke Potenzial in der Gesellschaft zusammenzuführen und die politischen Kräfteverhältnisse deutlich zu verändern. Für diesen Bundeswahlkampf machen wir drei konkrete Vorschläge:
- Erstens: Die Partei DIE LINKE bringt sich in einen breiten gesellschaftlichen Diskussionsprozess ein, unterstützt diesen und organisiert ihn mit, aus dem bis zum Spätherbst 2020 ein politisches Handlungsprogramm entsteht – immer vorausgesetzt, es kommt zu keinen vorgezogenen Wahlen. Wir kämpfen darum, dass dieses Programm zu einer der Grundlagen einer Regierung des sozialökologischen und friedensorientierten Richtungswechsels wird.
Die Arbeit daran muss jetzt begonnen werden und sollte partizipatorisch erfolgen. Es sollte geprüft werden, ob über die zentralen Punkte dieses Programms auf der Straße, bei aufsuchenden Begegnungen in Stadtviertel und Gemeinden und Online abgestimmt werden kann, um die Prioritäten zu bestimmen. Das in einem solchen Diskussionsprozess erarbeitete Programm sollte durch Wissenschaftler*innen sowie Praktiker*innen mit Blick auf seine finanziellen und rechtlichen Bedingungen und Folgen sowie mit Blick auf den Umbau der Staatsfunktionen analysiert werden, um daraus konkrete Vorschläge zur Umsetzung zu erarbeiten. - Zweitens: Das in diesem Diskussionsprozess erarbeitete Programm sollte als Wahlprogramm der Partei DIE LINKE für die nächste Bundestagswahl beschlossen werden. Glaubwürdig ist es nur, wenn es als großes sozialökologisches Zukunftsprogramm entwickelt wird, das durch eine Investitionsoffensive untersetzt ist. Umverteilung und Umgestaltung gehören zusammen. Dies schließt natürlich ein, nur Positionen aufzunehmen, die mit dem Parteiprogramm der Partei DIE LINKE vereinbar sind.
- Drittens: DIE LINKE sollte in diesem Prozess bereit sein, ihre Listen auf aussichtsreichen Plätzen für Aktivist*innen aus sozialen und ökologischen Organisationen, der Friedensbewegung, der Bewegung für globale Solidarität, für die solidarische regionale und kommunale Entwicklung in Deutschland zu öffnen und als Direktkandidat*innen für die Bundestagswahl aufzustellen, um die Breite der gesellschaftlichen Bewegungen für einen Politikwechsel erkennbar zu machen.