Der Ausgangspunkt: Nord Stream 1 liefert kaum noch
Russland hat im Zuge des völkerrechtswidrigen Ukraine-Kriegs seine täglichen Gas-Liefermengen nach Deutschland über die Pipeline Nord Stream 1 stufenweise abgesenkt - in den letzten Wochen auf ein Fünftel der möglichen Kapazität. Bereits zweimal kam es tageweise zum kompletten Lieferstopp. Begründet wird dies von Gazprom mit Turbinenschäden und Wartungszyklen. Einige Politiker:innen in Deutschland fordern darum, der fertigen und bereits mit Gas gefüllten Schwester-Pipeline Nord Stream 2 die Betriebserlaubnis und Einspeisung ins deutsche Netz nahe Greifswald zu genehmigen. So etwa Handwerker aus Halle und dem Saalekreis in einem offenen Brief an Olaf Scholz oder der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki.
Technische Probleme vorgeschoben
Real spricht viel dafür, dass Russland die technischen Probleme nur vorschiebt, um politischen und ökonomischen Druck auf den Westen auszuüben, etwa zur Lockerung von Technologie-Embargos. So sind am Anfang der Nord-Stream-1-Röhre in Wyborg nahe Sankt Petersburg sechs große und zwei kleinere Verdichter-Turbinen im Einsatz. Diese Information stammt vom italienischen Gas- und Dampfturbinentechnik-Servicedienstleisters Mesit, der in der Vergangenheit auch die Wyborg-Station mit betreute. Die Leistungsbegrenzung auf 20 Prozent wurde Ende Juli von Präsident Putin mit dem wartungsbedingten Ausfall von drei Turbinen begründet. Selbst wenn tatsächlich drei ausgefallen sein sollten, und selbst wenn entgegen den italienischen Angaben nur fünf Turbinen installiert wären, wie Moskau plötzlich argumentiert, würde dies nicht einen Leistungsabfall von 80 Prozent erklären. Auch die Argumente zur aktuellen Sperrung überzeugen Fachleute nicht, etwa die Experten von Siemens Energy als Lieferant von Pipeline-Technik. Entsprechend skeptisch sollten die letztlich unkontrollierbaren Aussagen Russlands zum Anlagenzustand betrachtet werden.
Zum anderen existiert neben dieser Ostsee-Pipeline und der von Polen gesperrten Jamal-Pipeline (Transit über Weißrussland) eine dritte leistungsfähige, aber unterausgelastete Trasse aus Russland nach Deutschland bzw. Westeuropa. Sie nutzt als Transit das ukrainische Pipelinesystem UGTS (darum häufig Ukraine-Transit genannt), anschließend die Pipeline Transgas durch die Slowakei und Tschechien, und mündet schließlich in Süddeutschland. Die dort vorhandenen offenen Transportkapazitäten werden jedoch von Russland nicht dazu genutzt, die angeblich aus technischen Gründen ausfallenden Mengen von Nord Stream 1 wenigstens teilzukompensieren (80 Prozent Fehlmenge zur Vollauslastung wären rund 960 Mio. Kubikmeter pro Woche). Tatsächlich strömen momentan über den Ukraine-Transit wöchentlich nur 278 Mio. Kubikmeter gen Westen. Es könnte nach Ansicht von Fachleuten mindestens zwei bis drei Mal so viel sein, selbst wenn man jenes Viertel an Kapazität eines Teilstranges abzieht, welches die Ukraine im Mai gesperrt hat, weil sie keine Kontrolle mehr über den Zustand einiger Anlagen in der von Russland besetzen östlichen Luhansk-Region hat.
Der CEO des ukrainischen Fernleitungsnetzbetreibers GTSOU, Sergiy Makogon, stellte kürzlich klar, sein Unternehmen könne umfangreiche und zuverlässige Lieferkapazitäten in die EU anbieten, selbst wenn Nord Stream 1 nicht liefere. Insofern ist auch der Ruf nach Öffnung von Nord Stream 2 als Problemlösung absurd und spielt objektiv Wladimir Putin in die Hände. Russland wird seine Liefermacht solange nutzen, um sich Vorteile in den geopolitischen Auseinandersetzungen zu schaffen, wie es diese Macht hat.
Verminderte Gaslieferungen um Zertifizierung zu erpressen
Russland taktiert in Sachen Nord Stream nicht erst seit dem Ukraine-Krieg. Bereits im letzten Herbst hatte Gazprom die Liefermengen in die EU verknappt, insbesondere durch die Lieferkorridore durch die Ukraine und Polen. Bis zum Überfall auf die Ukraine hat Russland zwar alle vereinbarten langfristigen Lieferverträge erfüllt, jedoch kaum noch etwas auf dem kurzfristigen Spotmarkt angeboten, an dem sich traditionell die europäischen Importeure für einen Teil ihres kurzfristigen saisonbedingten Bedarfs eindecken. Gazprom wollte damit Druck ausüben auf die noch ausstehenden Zertifizierungen von Nord Stream 2 und auf die Entscheidung, ob sich der Staatskonzern der EU-Regulierung unterwerfen muss (Trennung von Netz und Betrieb). So hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow und Vize-Premier Alexander Nowak wiederholt signalisiert, dass man durch eine beschleunigte Inbetriebnahme von Nord Stream 2 dem Markt zusätzliche Volumen bereitstellen könne.
Die Gasflüsse durch die Ukraine und Polen lagen in der ersten Oktoberhälfte 2021 um 51 Prozent beziehungsweise 59 Prozent unter denen in der ersten Oktoberhälfte 2020, die Yamal-Trasse war fast leer. Zudem waren Ende Oktober letzten Jahres die von Gazprom belieferten Gasspeicher in Deutschland nur zu 21 Prozent gefüllt - weit unterdurchschnittlich im Vergleich zu anderen Gasspeichern. Heute dürfte klar sein, dass all diese Aktionen auch der Vorbereitung des Ukraine-Kriegs dienten.
Nord Stream 2 im geostrategischen Kampf
Das Projekt der Ostseepipeline Nord Stream 2 startete im Jahr 2011 unter einem vom russischen Konzern Gazprom geführten Konsortium mit deutscher Beteiligung. Von Beginn an gingen insbesondere die USA aufs härteste gegen das Projekt vor. Der Kampf gründete vielfach auf durchsichtigen wirtschaftspolitischen und geostrategischen Interessen. Es ging zum einen darum, den Kampf um schrumpfende Gas-Absatzmärkte in Europa gegen Moskau zu gewinnen, in die Trump dreckiges LNG-Fracking Gas drücken wollte. Zum anderen ging es um eine Machtpolitik, welche sich grundsätzlich gegen Russland richtete.
Daneben gab es jedoch in Europa in vielen politischen Lagern sowie seitens osteuropäischer Mitgliedsstaaten Widerstand gegen diese zweite Trasse durch die Ostsee, weil sie mit weiteren 55 Mrd. Kubikmetern jährlicher Kapazität die Umgehung des Pipeline-Systems Ukraine-Transit ermöglichen würde. Somit würden nicht nur Transitgebühren für Kiew wegfallen, sondern auch Handlungsspielräum für Russland eröffnet, um gegenüber der Ukraine und anderen ehemaligen sowjetischen Staaten einen noch härteren Kurs fahren zu können. Eine Befürchtung, die sich nicht nur mit der Besetzung der Krim und des Donbas im Jahr 2014, sondern auch mit dem Überfall auf die restliche Ukraine im Februar dieses Jahres auf bittere Weise bewahrheitet hat.
Nord Stream 2 von Projektbeginn an überflüssig
Zudem liefen Umweltverbände Sturm gegen die neue Pipeline, vor allem aus energie- und klimapolitischen Gründen. Es waren dieselben Argumente, mit denen sie sich gegen zusätzliche LNG-Infrastrukturen in Europa wendeten: Laut jenen wissenschaftlichen Szenarien, in denen die im Pariser Klimaabkommen beschlossenen Ziele berücksichtigt würden, sei die in Europa vorhandene Gas-Infrastruktur mehr als ausreichend, um den sinkenden Gasbedarf zu decken.
So kam eine Studie von Artelys und Climact im Auftrag des Konsortiums «Energy Union Choices» im Jahr 2016 zu dem Ergebnis, dass die meisten geplanten Infrastrukturprojekte zwischen europäischen Ländern sowie zusätzliche Gasimporte für die Versorgungssicherheit nicht nötig sind. Ausnahmen seien lediglich einzelne Projekte in Südosteuropa, die die Region bei einer erheblichen russisch-ukrainischen Versorgungsunterbrechung absichern sollen. Großprojekte wie «Nord Stream 2», der «südliche Erdgaskorridor» und mehrere kleinere Vorhaben, die für die EU als von «allgemeinem Interesse» galten und von denen viele für EU-Fördermittel qualifiziert waren, drohten, zu Fehlinvestitionen zu werden.
Im World Energy Outlook 2017 der internationalen Energieagentur (IEA) wurde die künftige Gas-Nachfrage in Europa in ihrem Nachhaltigkeitsszenario ähnlich beurteilt: Sie wird sinken. Und zwar schneller sinken als der Rückgang der innereuropäischen Förderung.
Eine Wette auf das Scheitern von Paris
Eine energiewirtschaftliche Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kam schließlich 2018 erneut zum Ergebnis, dass die geplante zweite Erdgaspipeline Nord Stream 2 zur Sicherung der Erdgasversorgung in Deutschland und Europa nicht notwendig ist. Einerseits sei damit zu rechnen, dass die Nachfrage nach Erdgas sowohl in Deutschland als auch in Europa weiter sinke; Erdgas werde bei der Energiewende als Brückentechnologie nicht mehr benötigt und sei kurzfristig der kostengünstigeren Kohle und langfristig den erneuerbaren Energien in Verbindung mit Speichertechnologien unterlegen. Andererseits sei das Angebot an Erdgas bereits heute diversifiziert und könne im Notfall durch zusätzliche Flüssiggaslieferungen (LNG) ergänzt werden. Hier stellt das DIW bezüglich der LNG-Option allerdings auf eine modellhafte Extremsituation ab (die nun eingetreten ist), nämlich den vollständigen Wegfall russischer Lieferungen, nicht also etwa darauf, dass LNG nötig wäre, um auf Nord Stream 2 verzichten zu können.
Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam zudem ein Fachgespräch der Bundestagsfraktion DIE LINKE zum Thema am 8. April 2019. Auf die explizite abschließende Frage, ob Deutschland LNG-Fracking Gas oder Nord Stream 2 aus Versorgungssicherheitsaspekten bräuchte, antworten alle geladenen Experten: Nein, bzw. nur dann, wenn die Klimaziele verfehlt würden. Neue LNG-Terminals und Nord Stream 2 seien im Kern eine Wette auf das Scheitern des Pariser Abkommens.
Der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Gaskrise haben die reale Lage gegenüber den Szenarien der aufgeführten Studien selbstverständlich verändert. Und zwar dahingehend, dass Europa seine Bezugsquellen zügig diversifiziert, um den Gasbezug aus Russland stark zu vermindern. Auch hier ist Vieles kritisch zu hinterfragen, etwa die überzogenen LNG-Ausbaupläne für Deutschland. Klar dürfte aber sein: Nord Stream 2 ist überflüssiger denn je.