Den Krieg bis zum Sieg des Westens in der Ukraine um den Preis des Lebens von Hunderttausenden Menschen zu eskalieren, verantwortungslos auf atomare Abschreckung als Schranke gegen eine unkontrollierte Ausweitung des Krieges zu hoffen – das darf nicht ernsthaft als taugliche Strategie gelten. Von der aggressiven Strategie Moskaus ganz zu schweigen.
In dieser Lage bietet sich den für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen engagierten Kräften an, sich auf die in den 1980er-Jahren entwickelte politische Konzeption Gemeinsamer Sicherheit zu besinnen.
Gemeinsame Sicherheit war im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts nicht allein eine orientierende Losung, sie war eine Doktrin mit ausgearbeiteten Strukturelementen und praktischer Wirkung. Sie hat die Potenz einer Jahrhundertstrategie.
Im herrschenden gegenwärtigen Diskurs lauten dagegen die Stichworte: mehr Feindbilder, mehr Rüstung, mehr Waffenlieferungen, mehr diplomatische Abstinenz, mehr Verdächtigung aller, die zur Mäßigung aufrufen. Von einem Sicherheitskonzept, in dem der damalige Stand der Arbeit an Gemeinsamer Sicherheit den veränderten Bedingungen gemäß aufgehoben wäre, kann keine Rede sein. Kritische Intellektuelle sind zurzeit fern von einer Verständigung über ein solches Projekt. Mobilisierende Gewerkschaften und soziale Bewegungen – bei allem Respekt für die Friedensbewegung – sind weit zurück im Vergleich zu jener eine Million Amerikaner*innen, die am 12. Juni 1982 unter der Losung «No Nukes Rally» auf die Straße gingen, zu den rund 400.000 Demonstrant* innen im Bonner Hofgarten und den 50.000 Protestierenden in Berlin zur gleichen Zeit gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in West- und Ostdeutschland.
Hier wird die Auffassung vertreten, dass Gemeinsame Sicherheit noch immer die einzige Alternative zu imperialen Machtkämpfen, zum Rüstungswettlauf und auch zum Krieg in der Ukraine ist. Deshalb wird dieses Konzept, das aus der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion weitgehend verdrängt worden ist, in Erinnerung gerufen. Ihm erneut Geltung in der Politik zu verschaffen, ist eine erstrangige politische, geistige und kulturelle Herausforderung für alle humanistischen Kräfte.
Inhalt:
- 1 Gemeinsame Sicherheit gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts – Fragen im Heute
- 1.1 Die Kluft zu damals
- 1.2 Gemeinsame Sicherheit und Zivilisationsprozess
- 1.3 Gründe für Gemeinsame Sicherheit damals und heute
- 2 Was ist Gemeinsame Sicherheit als Konzept und Politik?
- 2.1 Gemeinsame Sicherheit als Konsequenz aus gemeinsamer Bedrohung
- 2.2 Gegner von heute – Partner von morgen
- 2.3 Gemeinsame Sicherheit als Prozess
- 2.4 Ideologische Unterschiede müssen der Sicherheit untergeordnet werden
- 2.5 Anerkennung der Friedens- und Reformfähigkeit der beteiligten Seiten
- 2.6 Gemeinsame Sicherheit als Politik der Rüstungskontrolle und Abrüstung
- 2.7 Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit als Element Gemeinsamer Sicherheit
- 2.8 Kooperation als Grundelement Gemeinsamer Sicherheit
- 3 Gemeinsame Sicherheit – ein Konzept für die globale Ebene
- 3.1 Szenario I: Unipolarität
- 3.2 Szenario II: Neue Bipolarität
- 3.3 Szenario III: Multipolarität
- 3.4 Szenario IV: Re-Nationalisierung
- 3.5 Szenario V: Weltunordnung
- 4 Gemeinsame Sicherheit – doppelte Transformation – moralische Revolution
Autor:
Dieter Klein, Prof. Dr. rer. oec. habil., Ökonom, war bis Ende 2012 Mitglied des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Fellow (mit dem Schwerpunkt Transformationstheorie) im Institut für Gesellschaftsanalyse der Stiftung. Bis zu seiner Emeritierung 1997 hatte er den Lehrstuhl Ökonomische Grundlagen der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität inne. Er gehörte zum Projekt «Moderne Sozialismustheorie», das sich schon vor dem Ende der DDR 1989 für alternative Entwicklungswege einsetzte. Zuletzt erschien von ihm das Buch «Regulation in einer solidarischen Gesellschaft. Wie eine sozial-ökologische Transformation funktionieren könnte» im VSA-Verlag.