Nach dem ersten Weltkrieg mit all seinen Verbrechen und der Russischen Revolution ging die Analyse aus kommunistischer Sicht davon aus, dass dem kapitalistischen Privateigentum Konkurrenz entspringt und diese zu krisenhafter Entwicklung führt, die in Imperialismus und Krieg mündet. «Der imperialistischen Politik, die die ‚Großmächte‘ führten, musste früher oder später der Zusammenstoß folgen. Es ist ganz klar, dass diese räuberische Politik aller ‚Großmächte‘ die Kriegsursache war.» Dieser Krieg «musste ein Weltkrieg werden», weil alle Mächte «miteinander durch die gemeinsame Weltwirtschaft verbunden» waren. So war Konsequenz die Alternative: «Allgemeine Auflösung oder Kommunismus? Die sich entwickelnde Revolution wird aus denselben Gründen zu einer Weltrevolution, aus welchen der imperialistische Krieg zum imperialistischen Weltkrieg wurde.»
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist anders verlaufen: (1) Die Weltrevolution blieb aus, der reale Sozialismus war auf die Sowjetunion und nach 1945 weitere Teile Europas und Asiens beschränkt. (2) Der Kapitalismus entwickelte sich weiter krisenhaft, blieb aber funktions- und in dem von ihm beherrschten Teil der Welt hegemoniefähig. (3) Der zweite Weltkrieg, den Deutschland 1939 vom Zaune brach, ließ sich nicht linear aus dem Kapitalismus und analog zum ersten erklären, aber auch nicht vordergründig aus der «Systemkonkurrenz» zwischen der Sowjetunion und der kapitalistischen Welt. (4) Der reale Sozialismus brachte seine eigenen Kriege hervor. Selbst wenn man von der Beteiligung der Sowjetunion an der Zerschlagung Polens 1939 und dem sowjetisch-finnischen Krieg 1940 absieht, sind die Kriege zwischen der Sowjetunion und China 1970, China und Vietnam 1980 und der sowjetische Afghanistankrieg 1979 bis 1989 eindeutig aus den politischen Dispositionen der beteiligten «sozialistischen» Länder heraus zu erklären.
Einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Krise und Krieg gab es stets. Er war jedoch nie so linear, wie vor neunzig Jahren vielfach angenommen. Kriege waren zuweilen «Ausweg» aus Krisen, um von inneren Problemen abzulenken oder durch Raub wirtschaftliche und soziale Probleme zu kaschieren. Aber Kapitalismus und Profit führen nicht automatisch zu Krieg. Krieg wird immer gemacht. Deshalb hat die Friedensbewegung auch heute die Chance, den Kriegstreibern in den Arm zu fallen. Und deshalb ist es auch in Bezug auf den Weg in den ersten Weltkrieg wichtig, sich mit dem außenpolitischen Perzeptionsproblem zu befassen – außenpolitische Entscheidungen werden in aller Regel nicht auf der Grundlage der «tatsächlichen» Lage getroffen, sondern unter der Voraussetzung, wie die Entscheider diese Lage einschätzen. Historiker, die 100 Jahre später die Akten, Texte und Darstellungen aller Seiten kennen, haben es leichter. Aber sie haben nichts zu entscheiden, außer, wie sie das Gewesene darzustellen gedenken.
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Überarbeitete Fassung des Vortrages auf dem 18. Potsdamer Kolloquium zur Außen- und Sicherheitspolitik: „Das Jahr 1914 und die Frage von Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert“ am 29. August 2014.