Langfassung eines Vortrags von Michael Brie zur Eröffnung der Konferenz «Walter Janka zum 100. Geburtstag» (18.1.2014, Berlin, Theater Aufbau Kreuzberg).
In seiner Sitzung vom 18. bis 20. Oktober 2013 hat der Parteivorstand der Partei DIE LINKE mit Mehrheit einen Beschluss unter dem Titel „Gedenktafel am Karl-Liebknecht-Haus“ gefasst. Der erste Punkt des Beschlusses lautet: „Im Gedenken an die Kommunistinnen und Kommunisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten, die dem großen Terror in der Sowjetunion zum Opfer fielen, wird am Berliner Karl-Liebknecht-Haus eine Gedenktafel angebracht. Die Inschrift lautet: ‚Ehrendes Gedenken an Tausende deutsche Kommunistinnen und Kommunisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in der Sowjetunion zwischen den 1930er und 1950er Jahren willkürlich verfolgt, entrechtet, in Straflager deportiert, auf Jahrzehnte verbannt und ermordet wurden.‘“ Sie befindet sich an der gleichen Außenwand, an der noch zu Zeiten der DDR folgende Tafel angebracht wurde: „Ernst Thälmann, der Führer der deutschen Arbeiterklasse, der heldenhafte Kämpfer gegen Faschismus und Krieg, arbeitete in diesem Haus“.
So unterschiedlich die Reaktionen auf diesen Beschluss waren bezogen auf Formulierung und auf Ort des Gedenkens, so gibt es doch einen Konsens unter jenen, die sich in der Partei DIE LINKE zu Worte meldeten: Dieses Gedenken tut not. Und es ist ein besonders schmerzvolles Gedenken, weil es so lange, gerade in der DDR, in der SED so ungeheuer schwer war, der durch die Sowjetunion und nicht selten unter Mithilfe von KPD, SED und Organen der DDR verfolgten Kommunistinnen und Kommunisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten zu gedenken, ohne dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, Nationalsozialismus und sowjetischen Kommunismus gleichzusetzen. Erst 1989 begann sich das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED mit dem Schicksal jener zu beschäftigen, die oft im Auftrag der KPD oder durch sie gewonnen, in die Sowjetunion gegangen waren und dort Opfer des stalinistischen Terrors wurden. Kommunistische Opfer des Kommunismus gab es aber auch in der DDR selbst.
Niemals hat eine politische Bewegung in so kurzer Zeit so viele Menschen in ihren Bann gezogen und so viele Gesellschaften nach ihrem Bilde geformt, wie der von Lenin begründete Parteikommunismus des 20. Jahrhunderts. Und niemals zuvor wurden so viele Anhänger einer solchen Bewegung von deren Führern und ihren Apparaten unterdrückt, verfolgt, eingekerkert und ermordet wie in jener Zeit, die mit dem Stalinismus (und auch Maoismus) verbunden wird. Wie Christa Wolf im Herbst 1989 bei der Lesung von Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ im Deutschen Theater sagte: „Zum erstenmal wird öffentlich und so radikal wie möglich jenes Grundübel zur Sprache kommen, aus dem über Jahrzehnte hin fast alle anderen Übel des Staates DDR hervorgegangen sind: der Stalinismus.“[1] Die Größe und das Elend des Parteikommunismus sind weltgeschichtlich beispiellos. Er ist von einer einmaligen Tragik geprägt.
Auf dem 20. Parteitag der KPdSU von 1956 ging Nikita Sergejewitsch Chrustschow mit den folgenden Worten auf den Großen Terror Stalins ein: „Und gerade in dieser Periode (der Jahre 1935 bis 1937) kam es zur Praxis der massenweisen Repressalien von Staats wegen, zuerst gegenüber den Gegnern des Leninismus: gegenüber den Trotzkisten, Zinov'evleuten und Bucharinleuten, die schon seit langem politisch von der Partei zerschlagen waren, später auch gegenüber vielen ehrlichen Kommunisten, gegenüber denjenigen Parteikadern, die die schwere Last des Bürgerkrieges sowie der ersten und schwierigsten Jahre der Industrialisierung und Kollektivierung auf ihren Schultern getragen hatten, die aktiv gegen die Trotzkisten und Rechtsabweichler um eine leninistische Parteilinie gekämpft hatten.“[2] Immer noch wurde die Unterscheidung zwischen denen, die jemals in einen Konflikt mit Lenin geraten waren, und den „ehrlichen Kommunisten“ gemacht. Welch irrwitziges Kriterium von „Ehrlichkeit“!
In seinem Roman „Leben und Schicksal“ lässt Wassili Grossman einen kommunistischen Häftling im Gulag sagen: „Ich beneide nicht, die draußen in Freiheit sind. Die in ein deutsches Konzentrationslager geraten sind, die beneide ich. Wie schön, wenn man einsitzt und weiß, dass man von einem Faschisten geprügelt wird. Wir sind hier doch in der schrecklichsten Lage, werden von unseren eigenen Leuten misshandelt.“[3] Walter Janka wurde zwei Mal im Bautzener Gefängnis eingekerkert – zum ersten Mal für anderthalb Jahre nach 1933 und zum zweiten Mal für vier Jahre 1957. Welche Perfidie! Beim ersten Mal wurde ihm Vorbereitung zum Hochverrat vorgeworfen – wie hätte er den nationalsozialistischen Richtern widersprechen können! –, zum zweiten Mal wurde er „als unmittelbarer Hintermann und Teilnehmer einer konterrevolutionären Gruppe“ wegen Boykotthetze zu fünf Jahren Zuchthaus mit verschärfter Einzelhaft verurteilt. Dieses Verdikt hat er, ganz anders als das erste, niemals akzeptiert.
Ich möchte den entsprechenden Paragraphen der DDR-Verfassung (Art. 6, § 2) von 1949 zitieren, auf den sich das Urteil gegen Walter Janka und die Mitangeklagten bezog: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militärischer Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches.“[4] Walter Janka wurde in der DDR also mit Berufung auf genau jenen Paragraphen verurteilt, der dem offensiven Schutz der Demokratie vor faschistischen Angriffen dienen sollte. Der nachfolgende entscheidende Satz – „Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze“ – wurde dagegen ignoriert. Der behauptete Schutz der Demokratie wurde in ein Mittel der Zerstörung der Demokratie und der Negierung der elementaren, in der Verfassung verbrieften demokratischen Grundrechte verwandelt. Kritik an der aktuellen Partei- und Staatsführung der DDR – vornehmlich unter dem Gesichtspunkt mangelnder Demokratie artikuliert – wurde mit antidemokratischer Haltung identifiziert.[5] Diese Paradoxa sind dem Parteikommunismus sowjetischer Prägung wesenseigenen. Sie sind nicht stalinistisch, sondern leninistisch. Stalinistisch sind nur der entfaltete Terror gegen die eigene Partei und der völlige Verlust jeder Kontrolle über die Ausübung personaler Macht.
Anders als das Elend, kann die Größe des parteikommunistischen Projekts heute schnell vergessen werden. Sie ergab sich aus der Verbindung der radikalsten humanistischen Vision, die es jemals gegeben hat (dem Kommunismus der Freien und Gleichen oder der „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Entwicklung aller“[6] wird) mit der wirkungsstärksten politischen Kampfform der Neuzeit – der leninistischen Partei und der von ihr geführten militärischen, sicherheitspolitischen, sozialen und kulturellen Organisationen. Der Kommunismus versprach, jede Form von Ausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt auszurotten, indem er radikal war, an die Wurzel der Übel ging – die Eigentumsverhältnisse, aus denen die Interessen und die Macht erwuchsen, so die Überzeugung, die alleinig Kapitalismus, Rassismus, Patriarchat und Krieg am Leben hielten. Und welche Schwächen die sowjetische Ordnung ganz offensichtlich haben mochte, ein Versprechen hielt sie unter Führung Stalins, der die Neue Ökonomische Politik 1929 jäh beendete, tatsächlich ein: Sie brach mit dem Privateigentum.
Die Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Kampf gegen Kolonialismus, Imperialismus und Faschismus begründeten die kommunistische Radikalität. Ganze Generationen von Revolutionären und Freiheitskämpfern schwuren ihre Treue der „Vision der Weltrevolution unter der Fahne des Roten Oktober“[7]. Es waren viele der konsequentesten Kämpfer gegen Krieg, Unterdrückung und Faschismus, jene, die sich mit aller persönlichen Folgerichtigkeit einbrachten, zu den größten Opfern bereit waren, sich von höchster Selbstlosigkeit leiten ließen, viele jener, die Humanismus absolut ernst nahmen, die in dieser Zeit zu Kommunisten wurden. Walter Janka war einer von ihnen. Die kommunistischen Bewegungen waren vor allem auch moralische Bewegungen und suchen im 20. Jahrhundert Ihresgleichen. Es gab in der ganzen Neuzeit wohl keine politische Strömung, die derart ganz und mit so hoher Dauer auf dem millionenfachen Ethos ihrer Anhänger aufgebaut war.
Lenins zentralisierte und disziplinierte Partei neuen Typus der Berufsrevolutionäre und der von ihr geführten Massen, deren absoluter Vormachtsanspruch auf wissenschaftlich unumstößlicher Wahrheit begründet wurde, deren durchschlagende Wirkung sich aus der Einheit von Bewusstsein, Willen und Handeln ihrer Mitglieder und Anhänger ergeben sollte, wurde für die Kommunistinnen und Kommunisten zu dem Mittel, dass die Erreichung der großen Ziele verbürgen sollte. Außerhalb und jenseits dieser Partei schien Kommunismus nichts zu sein als ein leeres Wort. Diese Partei war ein Widerspruch in sich: Sie sollte zugleich die künftige Gesellschaft der Freien und Gleichen antizipieren, die freie Assoziation der Zukunft in der Gegenwart vorwegnehmen, und auf blindem Vertrauen in die Führung und bedingungslosem Gehorsam ihr gegenüber geprägt sein. Beides wurde statuarisch verankert – die höchste Freiheit und völlige Unterordnung.
Die Identität der Kommunisten mit sich selbst hing ganz von ihrer Verbundenheit mit einer solchen Partei ab. Was spät oder nie erkannt wurde, war die Tragödie dieses Kommunismus: So sehr dieser Typ von Organisation sich unter sehr spezifischen Umständen von Krieg und Bürgerkrieg dazu eignen mochte, die Macht zu ergreifen, so sehr machte er zugleich jeden dauerhaften Fortschritt auf dem Weg der Befreiung unmöglich. Im Augenblick der Errichtung der parteikommunistischen Herrschaft, des Leninismus, wurde zugleich die Quelle jeder politischen Freiheit ausgerottet – die Möglichkeit von Menschen, sich frei und selbstbestimmt zu artikulieren und zu organisieren. Der Raum des Demokratischen „als ein nur von Vielen zu erstellender Raum, in welchem jeder sich unter seinesgleichen bewegt“, der um „Freiheit zentriert“ ist im Sinne des „Nicht-beherrscht-Werden und Nicht-Herrschen“[8], dieser Raum wurde unwiederbringlich zerstört. Diesen Widerspruch erfuhren nicht nur die politischen Gegner, sondern zunehmend auch die Kommunistinnen und Kommunisten selbst, sofern sie sich als Individuen nicht aufgaben, sondern den Weg der Befreiung als Weg wachsender Freiheit gestalten wollten. Die Unterdrückung und Verfolgung überzeugter Kommunisten war eine Konsequenz dieses Kommunismus. Das Überleben des Parteikommunismus wurde davon abhängig, dass der emanzipatorische Aufbruch erstickt wurde, aus dem doch die Energie für den kommunistischen Einsatz gekommen war, dass Marxens kategorischer Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“[9] nicht radikal kritisch auf die Verhältnisse der entstandenen staatssozialistischen Gesellschaft angewendet wurde.
Die Motivationen, die zum Aufbegehren gegen Kapitalismus, Imperialismus und Krieg geführt hatten, sollten unterdrückt werden, wenn der Stiefel im Gesicht der Arbeiter, Bauern und Intellektuellen von Mitgliedern einer kommunistischen Partei und ihrer Organe getragen wurde. Wie der vom Stalinismus belehrte und doch noch hoffende Ernst Bloch ausführte, gibt es aber mit Blick auf die Menschenrechte „zwischen Gestern und Morgen keinen schlechthin trennenden Riss“[10]: „Überall … soll es das gleiche Banner der Menschenrechte sein, welches die Werktätigen als Widerstandsrecht in kapitalistischen Ländern erheben, welches sie in sozialistischen durch Aufbau des Sozialismus, Kritikrechte, ja Kritikpflicht in diesem Aufbau vorantragen. Sonst würde ja – contradictio in adjecto – autoritärer Sozialismus gelten, indes doch die Internationale das Menschenrecht erkämpft: organisierte Mündigkeit.“[11]
In seinen Erinnerungen schreibt Walter Janka: „Ich habe Marx aufmerksam gelesen. Und ich glaube, ihn richtig verstanden zu haben. Außer Zweifel steht, dass seine Theorien mein Leben beeinflusst und den Rhythmus meiner Gedanken und Handlungen bestimmt, mein Wesen geformt haben. Doch es war nicht allein das. Mein Leben war immer auch die Suche nach Selbstverwirklichung. Inwieweit das gelungen ist, werden diese Erinnerungen zeigen.“[12] In diesen Sätzen wird der Selbstwiderspruch deutlich: Einerseits die Lehre von Karl Marx, auf die sich die SED und andere kommunistischen Parteien beriefen, andererseits die „Suche nach Selbstverwirklichung“. Auf der einen Seite wird am Sozialismus gegründet auf der Vorherrschaft des staatlich-gesellschaftlichen Eigentums festgehalten, auf der anderen Seite werden genau jene Strukturen abgelehnt, die bisher die einzigen waren, die dieses Eigentum zumindest auf Zeit zu sichern vermochten. Wie schrieb Walter Janka: „Nur soviel maße ich mir an: Ich begann vor vierzig Jahren, mich vom stalinistischen Denken zu entfernen, nach Lösungen zu suchen, die das, was wir als sozialistisch verstanden, von diktatorischer Unterdrückung befreiten. Und mir war schon sehr früh bewusst geworden, dass wir unsere Zukunft aufs Spiel setzen, wenn es nicht gelingt, einen Wandel zu ermöglichen. Hätte mich in den fünfziger Jahren jemand befragt, was in den sozialistischen Ländern noch als revolutionär zu verstehen ist, würde ich bedenkenlos geantwortet haben: Abschaffung aller diktatorischen Machtstrukturen, Durchsetzung eines sozialistischen Pluralismus, um in freier Wahl die arbeitenden Menschen entscheiden zu lassen, welcher Partei und welchen Personen sie ihre Stimme geben.“[13]
Diesen Widerspruch zwischen Freiheitsanspruch und Diktatur erfuhren nicht nur die politischen Gegner, sondern zunehmend auch die Kommunistinnen und Kommunisten selbst, sofern sie sich als Individuen nicht aufgaben, sondern den Weg der Befreiung als Weg wachsender Freiheit gestalten wollten. Verfolgung überzeugter Kommunisten war eine mögliche Konsequenz dieses Kommunismus. Das Überleben des Parteikommunismus wurde davon abhängig, dass der emanzipatorische Aufbruch erstickt wurde, aus dem doch die Energie für den kommunistischen Einsatz gekommen war. Die Verneinung des eigenen Ziels einer freien Gesellschaft im Prozess der leninistischen Verwirklichung dieses Ziels war unvermeidlich. Der Parteikommunismus verbot, dass Marxens kategorischer Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385) radikal kritisch auf die Verhältnisse der entstandenen staatssozialistischen Gesellschaft angewendet wurde.
Die parteikommunistische Strömung des 20. Jahrhunderts war derart konsequent auf die Bekämpfung des radikal Bösen fixiert, dass sie glaubte, sich der Dialektik des Guten, entziehen zu können. Es gehört jedoch zur conditio humana, dass Menschen als soziale Wesen gezwungen sind, „Zwang als Nutzung von Mitteln des Bösen“[14] akzeptieren müssen, um soziale Beziehungen zu stabilisieren. Ordnung kann nur verwirklicht werden, wenn sie sich – auch – der Gewalt bedient. Eine völlige Trennung des Guten vom Bösen ist prinzipiell unmöglich. Damit muss der Zweck immer im Zusammenhang und im Verhältnis zu den Mitteln bedacht werden. Der Parteikommunismus geriet in Versuchung, sich dem zu entziehen. Jeder Konflikt wurde fast ohne Grautöne in den Gegensatz Sozialismus oder Barbarei, Sozialismus oder Faschismus übersetzt. Das schlimme Unwort vom Sozialfaschismus war nur einer der Ausdrücke dieses manichäischen Reduktionismus. Die entstehende Bundesrepublik erschien in der Propaganda als Fortsetzung des deutschen Faschismus durch die Bourgeoisie mit anderen Mitteln. Unter den Bedingungen einer solchen Zuspitzung wurde Gewalt gegen Menschen zu einem kleineren Übel, zu einem notwendigen Übel oder sogar zu etwas Gutem. Und als Inkarnation des Bösen verlor der Andersdenkende, Andershandelnde auch die Menschenwürde. Stalins Chefankläger der Moskauer Prozesse, Wyschinski, beendete sein „Plädoyer“ im Prozess gegen Kamenew und Sinowjew mit den Worten, sie seien tollwütige Hunde, die man erschießen müsse. Und Stalin konnte zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution zu einem Trinkspruch anheben, der auch „alten Bolschewiki“ den Tod verhieß: „Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe – bis zum Ende!“ [15]
Das Bewusstsein, dass Gewalt immer etwas Böses ist, immer die Menschenwürde verletzt, deshalb der äußersten Kontrolle bedarf – der schärfsten moralisch-sittlichen wie der institutionellen Hemmung – konnte im Leninismus schnell verloren gehen. Rosa Luxemburgs Diktum, der „wahre Odem des Sozialismus“ sei die Verbindung von „rücksichtsloseste(r) revolutionäre(r) Tatkraft und weitherzigste(r) Menschlichkeit“[16], wurde immer wieder auf die Unbarmherzigkeit der kommunistischen „Sache“ und ihrer politischen Zweckmäßigkeit reduziert. Zugleich aber rief dies das Unverständnis, den Unwillen und schließlich auch Protest genau jener hervor, die aus Humanität doch zu Kommunistinnen und Kommunisten geworden waren. Wie konnten sie menschlich bei sich selbst bleiben, wenn das kommunistische Projekt im Prozess seiner politischen Verwirklichung nicht menschlicher wurde?!
Schon im Januar 1918 hatte Nikolai Bucharin bei der ersten und letzten Sitzung der Konstituierenden Versammlung Russlands „der bürgerlich-parlamentarischen Republik einen Kampf auf Leben und Tod“ erklärt[17]. Der frei gewählten Volksvertretern wurde das Ultimatum gestellt: Übernahme aller Beschlüsse der Sowjetregierung und sofortige Selbstauflösung oder aber Auflösung durch die von Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären gebildeten Macht. Ab Februar 1918 wurden die Vertreter der anderen Parteien, beginnend mit den rechten Sozialrevolutionären und Menschewiki, die in der Konstituierenden Versammlung die Mehrheit gehabt hatten, mit administrativen Mitteln aus allen politischen Ämtern entfernt. Die zivile Austragung von politischen Konflikten wurde unmöglich. Jetzt sprach nur noch der „Genosse Mauser“ (Majakowski 1918). Die Auflösung der Konstituierenden Versammlung machte den totalen Bürgerkrieg unvermeidlich. Ihm fielen rd. eine Million Menschen als Soldaten direkt und durch den Terror beider Seiten sowie durch antijüdische Pogrome zum Opfer. Die Zahl der zivilen Opfer (Seuchen, Hunger usw.) liegt bei geschätzten acht Millionen, vier Mal höher als im Ersten Weltkrieg[18]. Die „Freiheit der Andersdenkenden“ fand ein blutiges Ende.
Wie ich an anderer Stelle formulierte: „Die Leninsche Politik war nicht prinzipienlos, sondern hatte ganz im Gegenteil nur ein Prinzip – die Sicherung der Macht der Bolschewiki als Garant einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Der Aufbau einer welthistorisch so noch nie gesehenen Geheimpolizei und der Ausbau eines umfassenden Lagersystems zu einer permanenten Form der Internierung von aktuellen oder potentiellen Gegnern, systematischer Terror, militärische Zwangswirtschaft, die Unterdrückung der letzten Reste innerparteilicher Demokratie schienen durch dieses eine Prinzip legitimiert. Und die Mittel waren letztlich zumindest in dem einen entscheidenden Punkt erfolgreich: Diktatorisch wurde die Macht der kommunistischen Partei in Russland letztlich gesichert. […] Der Schrecken des Leninismus liegt darin, dass er mit der wichtigsten Maxime der Aufklärung gebrochen und Menschen wie Sachen behandelt, als bloßes Mittel und nicht auch als Selbstzweck.[19] Der Parteikommunismus riss die Schranke zwischen Mensch und Ding nieder. Er verwandelte die Einzelnen in ‚Werkzeuge‘ der kommunistischen Sache, ja, die Kommunisten selbst formten sich um in bloße Mittel der Politik bis hin zur Selbstvernichtung. Dies ist die Ursünde des Leninismus in der Geschichte der Linken.“[20]
Der Stalinismus wurde erst möglich, weil sich in der kommunistischen Bewegung der Leninismus durchgesetzt hatte. Während aber für Lenin und den originären Bolschewismus die Macht der eigenen Partei letztlich ein diktatorisches Mittel für solidarisch-emanzipatorische Ziele war und daran immer wieder gemessen wurde, wurde sie im Stalinismus zum Selbstzweck. Durch Stalin (und eine Reihe anderer Führer kommunistischer Parteien) wurde die entscheidende zivilisatorische Selbstbindung des Leninismus, die Bindung an die solidarische Selbstbefreiung der unterdrückten Klassen, aufgegeben. Der Stalinismus ist zugleich Erbe und er ist ein gewalttätiger Bruch mit dem Leninismus.
Soweit der Parteikommunismus stalinistisch wurde – und er wurde es nur in wenigen Jahren ganz und verlor zugleich niemals wieder völlig dieses Moment –, wurde die Vormacht der Partei selbst, der Parteiführung und letztlich der Führer zum alleinigen Zweck. In diesem Augenblick wurde aus der zwanghaften Disziplinierung und Selbstdisziplinierung der Kommunistinnen und Kommunisten ihre systematische Verfolgung und auch Vernichtung. Jetzt stand der Hauptfeind der personalisierten Herrschaft in den eigenen Reihen. Jeder, der auch nur den Ansatz von Autonomie verkörpern konnte, wurde zum potentiellen Verräter – seien es die sog. Spezialisten, die Militärs, die Intellektuellen, die Ausländer, die Juden, die Kulturschaffenden, jeder, der Kontakt hatte mit Gruppen jenseits der eigenen Partei und deren Kontrolle. So wurde Verfolgung apersonal und systematisch. Die leninistische Schwächung der zivilisatorischen Bindung des Kommunismus wurde zur Auflösung dieser Bindung. Nun galt: Sozialismus in einem Land und millionenfache Barbarei! Erst als die Selbstvernichtung der Partei Stalins eigene Macht bedrohte, als später der Angriff Hitlerdeutschlands die geschwächte Sowjetunion an den Rand der Vernichtung brachte, kam es zur Zähmung des Terrors. Die späten 1940er Jahre sahen eine neue Welle.
Mühselig wurde nach 1953 die Umkehr eingeleitet, wurden zivilisatorische Bindungen wieder aufgerichtet, wurde des befreienden Auftrags erinnert, wurde der Stalinismus zugunsten des Leninismus zurückgedrängt, auch wenn nach 1956 und auch später immer wieder neue Repressionen einsetzten. Der unblutige Verzicht der Parteikommunisten auf die Macht 1989 erst schließt diesen Zyklus ab. Seitdem steht die Aufgabe, das große Ziel der freien Assoziation und den Weg der Befreiung auf neue Weise und mit neuen Mitteln in Übereinstimmung zu bringen. Die kapitalistische Zivilisationskrise ist der Hintergrund, vor dem dies heute geschieht.
Kultur und Kunst wurden geradezu zu Kristallisationspunkten der Widersprüche des kommunistischen Projekts. Individuelle Freiheit konnte hier nicht auf Zeit zurück gestellt werden, um in Absehung vom eigenen Selbst, selbst-los, der Sache zu dienen. Dies war das Ende jeder Kunst, die den Menschen als Menschen und eben nicht als Schräubchen im Getriebe der parteikommunistischen Maschinerie anspricht. Wie dichtete Peter Rühmkorf: "Gestern Kommunist – morgen Kommunist,/ Aber doch nicht jetzt, Beim Dichten?" (Mailied). Dort, wo die Verwirklichung als ganz besonderes Individuum zur unmittelbaren Bedingung der gesellschaftlichen Wirkung wird – und dies geht über die Kunst weit hinaus, denn jedes menschliche Eingreifen ist immer kulturell, erfasst immer den Menschen in seiner zugleich ganz individuellen wie gesellschaftlichen Dimension –, dort werden die Konflikte zwischen kommunistischem Ziel und parteikommunistischem Mittel aufgerufen. Um so tiefer die Individualität und lebendige Kollektivität, um so härter der Schmerz, den dies hervorrief. Kommunistinnen und Kommunisten in allen Bereichen, ob Bildung oder Gesundheit, Wirtschaft oder Wissenschaft, ob Partei- oder Staatsorganisation, waren mit diesem Konflikt konfrontiert, wenn sie mehr sein wollten als bloß Ausführende.
Walter Janka hat sich in den tragischen Widersprüchen des Parteikommunismus bewegt und sie gelebt. In berührender Weise beschreibt er in seinen Erinnerungen, wie er ohne Bücher und Zeitungen, ohne die Möglichkeit, etwas aufzuschreiben, in seiner frostkalten Zelle in Bautzen die beiden Seelen in seiner Brust in den Dialog miteinander zwang – hier der überzeugte Parteisoldat, der den Zwängen des Kampfes gegen den Klassenfeind Rechnung trug, dort der, der alles am Fortschritt möglicher Selbstverwirklichung und wachsender Freiheit maß. Dieser Dialog hielt ihn aufrecht in der Einsamkeit fast totaler Isolation. Erzwungene Einkehr wurde zur Selbstfindung.[21]
Anders als manche andere und doch gemeinsam mit vielen hat er die Widersprüche des Parteikommunismus mit großer Würde ausgehalten. Wo andere sich bückten, blieb er aufrecht. Wo andere Verrat an Genossen und an sich selbst übten, hat er sich verweigert. Wo andere die Anpassung wählten, blieb er bei sich selbst und seiner Überzeugung. Wo gesellschaftsveränderndes Handeln unmöglich wurde, blieb er hoffend. Mit ihm erinnern wir an einen bedeutenden Mann und denken zugleich über die Widersprüche von ganzen Generationen von Kommunistinnen und Kommunisten nach. Vielleicht entdecken wir dabei auch das Bleibende, das Fortwirkende, das auf dem Weg der Befreiung und Solidarität Mitzunehmende wieder, dass uns wohl zu sehr nach 1989 verloren ging, was wir uns nehmen ließen. Vielleicht ist es vor allem die Fähigkeit und Kraft, sich den Widersprüchen von Befreiung und Selbstbefreiung offen und solidarisch zu stellen, die wir neu erlernen müssen.
Der Grund, heute an die Verfolgung von Kommunistinnen und Kommunisten durch Organe kommunistischer Herrschaft zu erinnern, ist nicht, dass sie etwa mehr als andere Opfer geworden sind. Zunächst und vor allem hatte es jene getroffen, die nicht mit dem Kommunismus verbunden waren. Grund kann auch nicht sein, dass ihnen höhere Ehren zuteilwerden sollten als anderen Opfern. Gedenken müssen wir ihnen, weil sie aktiver Teil und zugleich Opfer jener Bewegung waren, deren Erbe wir nicht ausschlagen können – weder in ihrer Größe noch in ihrer Tragik. Es ist gut, dass diese Erinnerung nun öffentlich ist und damit bleibt. Die politische und moralische Glaubwürdigkeit sozialistischer Politik ist nicht allein vom souveränen Umgang mit dem Stalinismus abhängig. Aber ohne einen solchen Umgang mit der eigenen Geschichte des Leninismus und des Stalinismus kann sie niemals gewonnen und keinesfalls auf Dauer bewahrt werden.
[1] Zitiert in Walter Janka, Spuren eines Lebens, 1. Aufl. (Berlin: Rowohlt, 1991), 11.
[2] Nikita S. Chrustschow, „Rede des Ersten Sekretärs des CK der KPSS, N. S. Chruščev auf dem XX. Parteitag der KPSS [‚Geheimrede‘] und der Beschluß des Parteitages ‚Über den Personenkult und seine Folgen‘, 25. Februar 1956“, 1956, www.1000dokumente.de/index.html.
[3] Vasilij S. Grossman, Leben und Schicksal, 1. Aufl., ungekürzte Ausg. (Berlin: List, 2008), 219.
[4] „Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik [vom 7. Oktober 1949]“, zugegriffen 18. Januar 2014, www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1949.html.
[5] Vgl. zu den Zielen der Gruppe um Wolfgang Harich und Walter Janka das Vernehmungsprotokoll in Der Prozess gegen Walter Janka und andere. Eine Dokumentation (Berlin: Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, 1990), 29.
[6] Karl Marx und Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, in MEW, Bd. 4 (Berlin: Karl Dietz Verlag, 1974), 482.
[7] Eric J. Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century, 1914-1991 (London : New York: Michael Joseph; Viking Penguin, 1994), 71.
[8] Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, [1. - 3. Tsd.] (München: Piper, 1993), 39.
[9] Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung [1844]“, in Werke, Bd. 1, MEW (Berlin: Dietz Verlag Berlin, 1976), 385.
[10] Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, [4. Aufl.] (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007), 227.
[11] Ebd., 204.
[12] Walter Janka, Spuren eines Lebens (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag, 1992), 13.
[13] Ebd., 435 f.
[14] Vincent Ostrom, The Human Condition, Workshop Archives (Bloomington, IN: Workshop in Political Theory and Policy Analysis, Indiana University, 1982), 2.
[15] Am 7. November 1937 führte Stalin, nachdem er die Einheit der UdSSR beschworen hatte, in seiner Tischrede aus: „Deshalb ist jeder, der versucht, diese Einheit des sozialistischen Staates zu zerstören …, ein Feind, ein geschworener Feind des Staates, der Völker der UdSSR. Und wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten. […] Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe – bis zum Ende!“ Zitiert in: Wladislaw Hedeler und Inge Münz-Koenen, Hrsg., „Ich kam als Gast in euer Land gereist…“ Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933 – 1956 (Berlin: Lukas-Verlag, 2013), 48.
[16] Rosa Luxemburg, „Eine Ehrenpflicht“, in Werke, Bd. 4 (Berlin: Karl Dietz Verlag, 1974), 406.
[17] „Aus den stenographischen Aufzeichnungen über die Tagung der Konstituierenden Versammlung. 5. und 6. Januar 1918.“, in Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse? Herausgegeben und eingeleitet von Wladislaw Hedeler, Horst Schützler, Sonja Striegnitz (Berlin: Karl Dietz Verlag, 1997), 412.
[18] „Russischer Bürgerkrieg“, Wikipedia, 6. Januar 2014, de.wikipedia.org/w/index.php.
[19] Immanuel Kant formulierte als praktischen kategorischen Imperativ, als »unbedingtes Gebot«, das »dem Willen kein Belieben in Ansehung des Gegenteils frei lässt«: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Immanuel Kant (2000) [1785]: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Ders: Sämtliche Werke. Bd. 2. Mundus-Verlag, S. 439.
[20] Michael Brie, „Der Bruch mit dem Leninismus als System Sozialismus und Demokratie - eine historische Tragödie. Vortrag in Leipzig am 20.4.2013“ (Online-Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2013), www.rosalux.de/publication/39446/der-bruch-mit-dem-leninismus-als-system.html (stilistisch bearbeitet).
[21] Janka, Spuren eines Lebens, 1991, 409 ff.