Seit 2011 hat in Europa und den USA mit den «Empörten» und «Occupy Wall Street» ein neuer, transnationaler Bewegungszyklus eingesetzt. Doch die Regierungen setzen ihre Politik eines neoliberalen Autoritarismus und der perspektivlosen Kürzungen fort. Die alternativen Bewegungen müssen sich strategisch reorientieren – mit Blick auf die «Hauptquartiere» der Macht.
Es geht darum, «die strukturelle Schwäche» der Bewegungen zu erkennen: «Plätze erobern, aber sie nicht halten können.» (Jens Kastner) Mit der Räumung der zentralen Camps in New York, Madrid und fast überall schien sogar das vorzeitige Ende der Bewegungen gekommen. Das Überraschende ist, dass sie sich reorganisieren, lernen, transnational fortsetzen. Aufbauend auf den organischen Kooperationen mit anderen Organisationen und Bewegungen der Subalternen in der Zeit der Platzbesetzungen konnte ein Strategiewechsel vorgenommen werden, der das Überleben und die Entwicklung der Bewegung sicherte: Sie streute in die Viertel, ohne sich zu zerstreuen.
Diese Lernprozesse und strategischen Neuorientierungen werden in diesem Buch untersucht, wobei insbesondere die Ereignisse in den USA, Spanien und Griechenland näher untersucht werden. Der Impuls der Bewegung ergreift auch Linksparteien und Gewerkschaften. Die gesellschaftliche Mobilisierung ist zugleich ein Prozess der Re-Organisierung der gesamten gesellschaftlichen Linken.
Aus dem Inhalt:
- Resonanzen des Unabgegoltenen und Remaking of Class
- Occupy Wall Street: Ereignis, Verdichtung und strategische Neuorientierungen
- Die Indignad@s des 15M: Molekulare Organisierung und Radikalisierung hin zur gesellschaftlichen Mobilisierung
- Syntagma & Syriza: Emergenz des Mosaiks jenseits von Vereinheitlichung und Differenz
- Eine Situation schaffen, die noch nicht existiert
- «Wo bitte geht’s zum Winterpalast?» Transnationale Resonanzen und blockierte Transformation
Erfolgreiches Scheitern war schon immer die wichtigste Bewegungsform der Linken. Entweder weil die großen Errungenschaften in passiven Revolutionen kompromissförmig in immer entwickeltere kapitalistische Herrschafts- und Vergesellschaftungsformen integriert wurden. Oder weil vielversprechende Bewegungen und Kräfte Kämpfe verloren, gewaltsam niedergeschlagen wurden, an Dynamik einbüßten, gespalten, Teile integriert, andere marginalisiert wurden – aber doch der Versuch die Einzelnen veränderte, weitergetragen wurde, sedimentierte. «Die Geschichte der subalternen gesellschaftlichen Gruppen ist notwendigerweise bruchstückhaft und episodisch. Zweifellos gibt es in der Geschichte der Aktivität dieser Gruppen eine Tendenz zur Vereinigung, sei es auch nur auf provisorischen Ebenen, aber diese Tendenz wird durch die Initiative der herrschenden Gruppen fortwährend gebrochen.» (Gramsci, Gef. 9, 2191)
In der großen Krise seit 2007 schien den »objektiven« Verhältnissen zunächst kein «subjektiver» Faktor zu folgen. Dies verweist auf einen wenig behandelten Zusammenhang: keine kapitalismuskritische Krisentheorie ohne subjektorientierte Gesellschaftstheorie. Es kann ausgeschlossen werden, «dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen; sie können nur einen günstigeren Boden» bereiten (Gramsci, Gef. 7, 1563). Welchen Gruppen, Protestformen und gesellschaftlichen Dynamiken die Krise einen «günstigen Boden» bereitet, ist nicht beliebig, aber geschichtlich offen.
Der Blick auf die Krise greift zu kurz, wenn er mit der Hoffnung auf unmittelbaren, sichtbaren und hörbaren Widerstand der Massen verbunden wird. Wer umgekehrt in der Krise ein ungebrochenes business as usual im Kapitalismus ausmacht, verliert den Blick für die feinen Risse und möglichen Verschiebungen, urteilt vorschnell (Candeias 2010b, 46f.). Immer wieder kommt es, zeitlich verschoben, mit Verzögerung, zu eruptiven Revolten, erratischen Bewegungen, Organisierung – an Orten, und auch gerade von jenen, von denen man es am wenigsten erwartet.
Ausgehend von den Impulsen der Arabellion (Candeias 2011b, 7f.) hat seit 2011 auch in Europa und den USA mit den »Empörten« und «Occupy Wall Street» endlich ein neuer Bewegungszyklus eingesetzt. Dem Beispiel der Besetzungen des Platzes der Kasbah in Tunis und des Tahrir-Platzes in Kairo folgend, schlugen die Indignad@s am 15. Mai 2011 ihre Zelte auf der Puerta del Sol in Madrid auf. Diese «Acampadas» wurden in Hunderten von Städten rund um den Globus kopiert, am spektakulärsten sicher in unmittelbarer Nähe der Wall Street, im Zuccotti-Park in New York: dem Geburtsort der Occupy-Bewegung.
So wie der globalisierungskritische Bewegungszyklus um den Planeten ging, den Gipfeln der Mächtigen folgend, von Seattle über Genua oder Barcelona, als Hunderttausende die Erfahrung machen konnten, Teil einer transnationalen Bewegung zu sein, wiederholt der Zyklus der neuen (Demokratie-) Bewegungen unter veränderten Bedingungen eine transnationale Ansteckung, erzeugt Resonanzen in völlig verschiedenen Kontexten. Sie folgt nicht den internationalen Verhandlungszyklen, ist selbst kaum international organisiert. Die Mobilisierung basiert auf lokalen Besonderheiten, ist vor Ort oft stärker organisiert, als es die globalisierungskritische Bewegung war, ist in vielen Ländern über die linken Kreise hinaus stärker in breiten Teilen der Bevölkerung verankert. Sie lernt transnational, verweist aufeinander, nutzt dieselben Symbole und Methodologien, aber jeweils lokal und der Zeit angepasst. Emblematisch spiegelt sich dies in den Camps und ihren direktdemokratischen Vergesellschaftungsformen wider. Zu Recht warnten Jens Kastner und viele andere vor einer trügerischen Euphorie: «Die neoliberale Hegemonie ist ungebrochen» (2012, 81). Das ist sicher eine Überdehnung des Hegemoniebegriffs (Candeias 2011c, 152f.).
Die Vervielfältigung der Proteste und die Formierung übergreifender Bewegung, ohne dass die Regierenden die Krise effektiv zu bearbeiten in der Lage wären, spricht für etwas anderes: Seine vorantreibende gesellschaftliche Funktion hat der Neoliberalismus verloren. Die Versprechen wurden gebrochen. Die aktive Zustimmung der Bevölkerung ist brüchig geworden. Es mangelt an ausreichend Expansions- und Entwicklungsmöglichkeiten, um in den kapitalistischen Metropolen sowohl den Akkumulationsbedürfnissen wie den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Bevölkerung nach Verbesserung ihrer Lage oder zumindest nach Perspektive nachzukommen. Doch ein passiver Konsens hat bislang mangels sichtbarer und durchsetzungsfähiger Alternativen Bestand. Die verheerenden Kürzungspolitiken werden autoritär durchgesetzt. Das heißt, die Neoliberalen sitzen – nicht zuletzt in Deutschland – fest im Sattel und bauen in Europa (mit dem Fiskalpakt) und den USA (mit der Blockade des Kongresses durch die Republikaner) ihre institutionelle Macht aus, nicht zuletzt dank der strukturellen Macht des Finanzkapitals. Ihre Position mag – in Anlehnung an Gramsci (Gef. 2, 354) – keine «führende» mehr sein, aber nach wie vor eine «herrschende» (Candeias 2009a, 9).
Insofern gilt dennoch Kastners Mahnung, «die strukturelle Schwäche» der Bewegungen zu erkennen: «Plätze erobern, aber sie nicht halten können.» (2012, 81) Diese Form der Organisierung konnte nicht auf Dauer gestellt werden. Mit der Räumung der zentralen Camps in New York, Madrid und fast überall schien das vorzeitige Ende der Bewegung gekommen. Angesichts der ungünstigen Bedingungen und übermächtigen Gegner wäre nichts anderes zu erwarten gewesen. Das Überraschende ist, dass sie noch existieren, überdauern, sich reorganisieren, lernen.
Im Folgenden sollen Lernprozesse und strategische Neuorientierungen untersucht werden. Um ihre Dynamik, Zusammensetzung und Organisierungsformen zu verstehen, bedarf es der Kenntnis ihrer Vorgeschichte und ihrer Artikulation mit anderen Organisationen und Bewegungen der Subalternen. Es wurde eine Dynamik ausgelöst, die weniger als «neue soziale Bewegung» im schlechtsoziologisch abgrenzbaren Sinne (gegen Atomkraft oder für bessere Studienbedingungen) bezeichnet werden kann, denn als gesellschaftliche Mobilisierung. Im Zentrum steht weniger die Entwicklung bestimmter sozialer Bewegungen, sondern die Neuformierung des Feldes der gesamten gesellschaftlichen Linken, in einem «molekularen, äußerst feinen Prozess» mit zahlreichen Verästelungen (Gramsci, Gef. 5, 1051). Jede gesellschaftliche oder politische Strömung agiert vermittels eines Feldes unterschiedlichster Organisationen (Kaindl/Rilling 2011, 18). «Analysen, die lediglich einige Akteure der gesellschaftlichen Linken betrachten, würden der Inklusivität dieses andauernden Prozesses gesellschaftlicher Veränderung nicht gerecht werden.» (Juberias u.a. 2012, 127) Der «tiefe gesellschaftliche Impuls» ergreift auch «die Parteien und Gewerkschaften, die auf einmal intensive Debatten führen und ihr Verhalten ändern» (130). Subalternität wird produziert, wenn das eigene Denken nicht erlaubt zu sehen, dass nicht nur die eigene Organisierung oder Organisierungsform zählt, sondern der «ganze aktive gesellschaftliche Block» (Gramsci, Gef. 7, 1774). Es geht in Anlehnung an Gramsci um die gesellschaftliche Partei und ihre ReOrganisierung.
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Titelfoto: Plaza del Sol, Madrid 2011, Sergio Rozas cc by-nc
ISBN 978-3-89965-551-3
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