Die ersten Texte für die erste Auflage dieses Bandes sind im Jahr 2015 unter dem unmittelbaren Eindruck der Ankunft Zehntausender Geflüchteter aus Syrien und anderen Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt in Deutschland entstanden. Während anfänglich die überwältigende Hilfe unzähliger Menschen an vielen verschiedenen Orten medial unter dem Schlagwort «Willkommenskultur» und im Kontext des Merkel’schen «Wir schaffen das!» im Vordergrund stand, formierte sich der Protest rechter Gruppen und sogenannter besorgter Bürger rasant und radikalisierte sich zusehends. Fortan war nur noch von der «Flüchtlingskrise» die Rede, und eine völkischnationalistische Bewegung ließ sich von dem hasserfüllten Furor rassistischer Hetze in die Höhe tragen. Die hier versammelten Texte dokumentieren die Wucht und Geschwindigkeit dieser negativen Entwicklungen.
Ihre alarmierendsten Effekte: die Verschiebung der gesellschaftlichen Diskurse weit nach rechts; die Auflösung von Sagbarkeitsgrenzen und die Umkehrung von Tabus; die enorme Verstärkerfunktion von sozialen Medien und Netzwerken für Verschwörungstheorien, rechte und rassistische Fake News, nationalistische Kampagnen und Parteipropaganda; der Durchmarsch der erst 2013 gegründeten Partei Alternative für Deutschland (AfD) und die Zunahme von Organisationsgrad, Militanz und Gewaltbereitschaft seitens ihrer außerparlamentarischen UnterstützerInnen (wie der Identitären Bewegung) sowie die Durchdringung des politischen Systems der Bundesrepublik mit neurechten und nazistischen (oder neofaschistischen) AkteurInnen.
All diese beängstigenden Entwicklungen haben dieses Land verändert – demokratische (Alltags-)Kultur, humane Orientierung und menschenrechtliche Grundstandards schwinden in einem irrsinnigen Tempo dahin. Die Atmosphäre ist geprägt vom Rassismus derjenigen, die sich durch die AfD-Erfolge und den globalen Rechtsrucks ermächtigt und ermutigt fühlen.
Es ist das eingetreten, was Partei- und Fraktionschef Alexander Gauland nach dem Einzug der AfD am Wahlabend des 24. September 2017 siegestrunken angekündigt hat: «Wir werden sie jagen. Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen. Und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.» Die bürgerlichen und sogenannten Volksparteien versuchen panisch, sich den «Rechtspopulisten» anzuverwandeln, allen voran die CSU: War deren Führungsriege schon immer ein kaum zu ertragender Männerklüngel aus rechtskonservativen Strebern, gelang ihr unter dem Druck der AfD-Erfolge in beeindruckender Weise eine Regression zur besonders fies völkisch-nationalistischen Besitzstandswahrer-Partei, die selbst ihre katholische Stammwählerschaft bisweilen schwindeln macht und die mit dem neuen Bundesinnen- und «Heimat»-Minister Horst Seehofer ihren verderblichen Einfluss auch in der Bundespolitik geltend macht – auf Biegen oder Brechen der Jahrzehnte währenden Fraktionsgemeinschaft zwischen den Schwesterparteien. Der neue Bundesinnenminister veranstaltet seine eigene Außenpolitik, trifft komplizenhaft die nationalistischen bzw. neofaschistischen Innenminister Österreichs (Kickl, FPÖ) und Italiens (Salvini, Lega Nord), um seine menschenverachtende Flüchtlingsabwehr an den EU-Außengrenzen durchzusetzen. Beim Niederschreiben dieses Vorworts heben pogromartige rassistische, gegen jede «Zuwanderung» gerichtete Ausschreitungen in Chemnitz die Auseinandersetzung auf eine neue Eskalationsstufe – gleichzeitig dümpeln Rettungsschiffe privater Initiativen, aber auch der italienischen Küstenwache vor den Südgrenzen der Europäischen Union und erhalten keine Erlaubnis, Mittelmeerhäfen anzulaufen, um die Unversehrtheit und Versorgung der aus Seenot Geretteten sicherzustellen. Der Rassist Salvini, der sich dafür einsetzt, in Italien lebende Roma zu registrieren und auszuweisen, spricht im Zusammenhang mit den Überlebenden auf den Rettungsschiffen von einer Fracht aus «Menschenfleisch». Als wollte es ihm sein deutscher Amtskollege gleichtun, freute sich Horst Seehofer Mitte Juli 2018, dass ausgerechnet an seinem 69. Geburtstag 69 abgelehnte Asylsuchende ins kriegsverheerte Afghanistan abgeschoben wurden.
Sorgte Anfang 2017 noch das Nicht-Verbot der NPD durch das Bundesverfassungsgericht für Aufsehen, war es Mitte 2018 das skandalöse Ende des NSU-Prozesses: Am 11. Juli verkündete der Vorsitzende Richter des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts in München, Manfred Götzl, nach 438 Prozesstagen und über fünf Jahren Verfahren ein symbolisch katastrophales Urteil. Zwar bleibt die Hauptangeklagte Beate Zschäpe lebenslänglich im Gefängnis, aber ausgerechnet die beiden bekennenden Neonazis unter den Angeklagten kommen milder davon, als von der Bundesanwaltschaft beantragt. André Eminger, der sich von seinen Verteidigern als «Nationalsozialist mit Haut und Haaren» bezeichnen ließ, wurde mit fragwürdiger Begründung teilweise freigesprochen und zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, das heißt zu fast zehn Jahre weniger, als von der Bundesanwaltschaft gefordert. Er konnte nach dem Urteilsspruch und der Aufhebung des Haftbefehls gegen ihn unter dem Jubel seiner angereisten Nazi-KameradInnen den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Ralf Wohlleben, auch unter der Forderung der Bundesanwaltschaft zu «nur» zehn Jahren Haft wegen Beihilfe zu neunfachem Mord – der rassistischen Mordserie des NSU – verurteilt, konnte das Gefängnis in der Woche darauf ebenfalls verlassen, da er einen Gutteil der Freiheitsstrafe bereits in der Untersuchungshaft abgesessen hatte. Für die sich gegenwärtig nicht nur in Chemnitz und Sachsen radikalisierende Nazi-Szene eine Aufmunterung zum Weitermachen – für die vom NSU-Terror Betroffenen zum Abschluss des mit großen Hoffnungen belegten «Jahrhundertprozesses» ein Schlag ins Gesicht.
Diese bittere Erfahrung machen auch zahllose andere Betroffene von rechter Gewalt und rechtem Terror: Ob das die Opfer des Nazi-Angriffs im thüringischen Ballstädt sind, die den lachenden Tätern beim Verlassen des Gerichts zuschauen durften und ihnen noch heute in ihrem kleinen Ort begegnen. Oder die Menschen in Nauen, wo ein Sprengstoffanschlag auf eine geplante Unterkunft für Geflüchtete von der Bundesanwaltschaft zu einem «normalen Kriminalfall» jenseits des Terror-Artikels 129a herabgestuft wurde. Oder in München, wo Polizei und Behörden trotz anders lautender wissenschaftlicher Gutachten daran festhalten, dass das Massaker an neun überwiegend jugendlichen Menschen migrantischen Hintergrunds im Münchener Olympia-Einkaufszentrum am 22. Juli 2016 ein bedauerlicher Amoklauf und nicht die Tat eines ideologisch in vieler Hinsicht gefestigten Täters gewesen sei. Oder in Koblenz, wo der Großprozess gegen 26 Mitglieder der Nazi-Organisation «Aktionsbüro Mittelrhein», unter anderem wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung, Körperverletzung, schweren Landfriedensbruchs und der Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen – ich erwähnte ihn schon im Vorwort zur zweiten Auflage –, nach 337 Verhandlungstagen wegen der Pensionierung des Vorsitzenden Richters grotesk scheiterte.
Einzig im Falle der «Gruppe Freital» vor dem Oberlandesgericht Dresden blieben die Anklagebehörde und das Gericht bis zum Schluss bei der Verfolgung der Angeklagten, die gemeinschaftlich mehrere Sprengstoffanschläge verübt hatten, als terroristischer Vereinigung, und es gab entsprechende Strafen – eine einsame Ausnahme in einem Panorama von Verharmlosung, Verniedlichung und Downgrading nazistischen Terrors. Die Betroffenen dieses Terrors überall in Deutschland werden vom Staat im Stich gelassen und ihre legitimen Ansprüche werden missachtet, während sich die militante rechte Szene im Land ins Fäustchen lacht.
Kurz und gut: Der Prozess des Durchmarschs und des Rechtsrucks in diesem Land und auch in ganz Europa, ja der ganzen Welt, ist noch lange nicht zu Ende. Noch nicht einmal erwähnt in diesem Vorwort zur dritten Auflage sind bislang Polen, wo antidemokratische Gesetze zuhauf verabschiedet werden und die polnische Geschichte gefährlich klitternd und nationalistisch umgeschrieben wird; Ungarn, wo der ultranationalistische Ministerpräsident Viktor Orbán mit einer Zweidrittelmehrheit der Stimmen im Grunde eine Generalvollmacht zum völkischen Umbau des EU-Mitgliedslands in Händen hält; Russland, nach Jahrzehnten autokratischer Putin-Herrschaft gerade mit der werbewirksamen Fußball-Weltmeisterschaft beschenkt; oder die Ukraine, wo kürzlich zum Teil tödliche Pogrome an Roma verübt wurden – mehr oder weniger unbeachtet von der europäischen Öffentlichkeit –; oder Kroatien, wo sich im Taumel des WM-Finales krude neofaschistische Töne Bahn brachen. Von Donald Trump ganz zu schweigen.
Es gibt also Anlass genug, sich anhand der exzellenten und aufschlussreichen Texte in diesem Band noch einmal mit den Anfängen dieser gespenstischen Entwicklung, die wir gegenwärtig wie im Zeitraffer erleben, zu beschäftigen und sich weiterhin zu fragen, weshalb sich eine zerrissene Linke nach wie vor so schwer tut, dem gefährlichen völkischen Treiben eine geschlossene Abwehr entgegenzusetzen und ihm in vielfältiger Weise große bunte Steine in den Weg zu rollen. Es gab beeindruckende Demonstrationen, Blockaden und andere Aktionen «gegen rechts» und gegen repressives staatliches Agieren (z. B. gegen die Polizeigesetze in Bayern und Nordrhein-Westfalen), es gab das NSU-Tribunal in Köln Mitte Mai 2017, die große «Kein Schlussstrich!»-Abschlussdemo nach der Urteilsverkündung im NSU-Prozess in München Mitte Juli 2018 und zahlreiche weitere Proteste im ganzen Land, wie zum Beispiel die «Seebrücke», gegen das rigorose deutsche Abschieberegime und die sträfliche und gegen alle maritimen Nothilfegesetze verstoßende «unterlassene Hilfeleistung» im Mittelmeer. Aber das reicht alles nicht. Wenn dieser Band einen kleinen Beitrag zur Frage nach dem «Wie» und zur Diskussion um ein antifaschistisches und linkes Ankämpfen gegen rechts und Rassismus leistet, worauf der bisher reißende Absatz hindeutet, so ist auch diese dritte Auflage mehr als angemessen.
Friedrich Burschel
Berlin, September 2018