Soll sich eine linke Stiftung mit Islamismus beschäftigen? Die terroristischen Anschläge des «Islamischen Staates» (IS) in Paris, Beirut und Istanbul sowie die sexuellen Übergriffe in Köln durch «nordafrikanische Männer» in der Silvesternacht 2015 haben das Thema Islam und Muslime einmal mehr in den Vordergrund gerückt. Aber auch ohne diese extremen Negativbeispiele sind Muslime und der Islam mittlerweile fester Bestandteil des politischen Diskurses in Deutschland.
Die Debatte währt bereits mindestens zwei Jahrzehnte. Auffällig ist, dass sie immer noch von starker Stereotypisierung und von Vorurteilen geprägt ist. Die Tendenz zur Verallgemeinerung mag zwar psychologisch verständlich sein, da Identitätsfindung immer auch über Abgrenzung funktioniert. Sie muss aber von Institutionen der politischen Bildungsarbeit hinterfragt werden. Gerade in Zeiten, in denen extreme Gefühle wie Angst (vor dem Islam, vor Terror, vor «zu vielen» Flüchtlingen) den politischen Diskurs in Deutschland bestimmen, sollte eine kritische linke Stiftung Analysen und Positionen anbieten, die einen rationalen und differenzierten Zugang zum Thema ermöglichen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema ist unerlässlich, sowohl im Hinblick auf die sogenannte Wertedebatte in Deutschland als auch in Bezug auf die Lösung von Konflikten in anderen Ländern der Welt. Wer hier den Austausch und gewaltfreie internationale Beziehungen sucht, muss notwendigerweise bereit sein zum Gespräch mit Akteuren, die ihrerseits friedlich agieren und um Verständigung bemüht sind. Problematisch ist dabei, dass die in Deutschland kursierenden Informationen über «den» Islam sehr oft von Menschen verfasst werden, die diesen ablehnen. Die Positionsfindung zu den vielfältigen Aspekten des Themenkomplexes «Politischer Islam» ist nicht einfach. Sie befindet sich noch in der Entwicklung, auch innerhalb der Linken in Deutschland. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung, als Institution der politischen Bildung, will zu dieser Positionsfindung beitragen. Dabei müssen nicht alle Meinungen, die wir heute und in der Zukunft vorstellen werden, von allen in der Stiftung geteilt werden.
In Nordafrika und Vorderasien (zum Teil auch in Westafrika) gibt es, insbesondere nach den letzten Anschlägen, vermehrt Versuche, die Ursachen für die Stärke und Anziehungskraft von terroristischen Organisationen wie dem IS insbesondere auf Jugendliche zu analysieren und entsprechend wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist daher an Studien interessiert, die ergründen, warum islamistische (militante) Organisationen wie der IS, Al-Qaida oder allgemein salafistische Gruppen (auch wenn diese nicht unbedingt militant auftreten) attraktiv für junge Menschen sind. Von einigen Auslandsbüros der Stiftung werden zurzeit Konferenzen zu diesem Thema durchgeführt, deren Ergebnisse auch in Deutschland vorgestellt werden sollen.
Es hat sich gezeigt, dass bei freien Wahlen in Nordafrika und Vorderasien diejenigen Parteien, die sich politisch auf den Islam berufen, sehr erfolgreich sind. Gesellschaftliche Identitäten und die Vereinbarkeit von Religion und Demokratie sind daher Schlüsselthemen, die gegenwärtig in Nordafrika und Vorderasien verhandelt werden. Als Organisation, die in der Region arbeitet, können wir diese Debatten nicht ignorieren, wenn wir uns glaubwürdig mit den dortigen Entwicklungen auseinandersetzen wollen. Im Kontext der Beschäftigung mit dem moderaten politischen Islam sollen DenkerInnen und WissenschaftlerInnen vorgestellt werden, die sich um erkenntnistheoretische Annäherung oder philosophische (Neu-)Interpretationen islamischer Grundsätze bemühen. Im vorliegenden Materialienband sollen zwei Beiträge vorgestellt werden: Ersterer ist ein Interview mit dem libanesischen Wissenschaftler Karim Sadek, der sich generell mit den Überschneidungen von Kritischer Theorie, Demokratietheorien und islamischem politischem Denken befasst. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich auch mit den Schriften von Rached al-Ghannouchi, dem Präsidenten und Vordenker von al-Nahda. Sadek veranschaulicht die Bedeutung von Ghannouchis Werk für Diskussionen um die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam. Es spiegelt die Kontroverse innerhalb der arabischen Welt wider, die nach einem friedlichen Ausweg aus der Polarisierung zwischen «säkularen» und «islamischen» Akteuren sucht.
Der Beitrag «Mit Islamisten reden! Über die Notwendigkeit von kritischem Dialog und programmatischer Einbeziehung» von Ivesa Lübben, Heidi Reichinnek und Julius Dihstelhoff vom Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) an der Philipps-Universität Marburg ist eine Reaktion auf den Materialienband «Dialog mit dem politischen Islam», der von Tanja Tabbara und Wilfried Telkämper im Dezember 2014 herausgegeben wurde. Hier präsentierte die Stiftung mit Texten von Peter Schäfer und Werner Ruf das Für und Wider eines solchen Dialogs. Die AutorInnen des aktuellen Beitrags, die sich in ihrer Forschung mit moderaten islamistischen Akteuren befassen, setzen sich für eine differenzierte Betrachtung des politischen Islam ein. Sie weisen auf die Kontexte hin, die die verschiedenen Ausprägungen des politischen Islam beeinflussen. Sie legen die Notwendigkeit zum (kritischen) Dialog mit Islamisten dar, allein schon wegen der wichtigen gesellschaftlichen Stellung und Verankerung ihrer Organisationen in den arabischen Ländern. Vor allem stellen sie heraus, dass moderate islamistische Akteure und Linke gerade in Fragen sozialer Gerechtigkeit durchaus gemeinsame Werte haben, auf deren Basis ein kritischer Dialog möglich ist.