Im Herbst dieses Jahres erschien beim britischen Verlag Palgrave Macmillan das Buch Rosa Luxemburg: A Permanent Challenge for Political Economy. On the History and the Present of Luxemburg's 'Accumulation of Capital' – Rosa Luxemburg: Eine ständige Herausforderung für die politische Ökonomie. Zur Geschichte und Gegenwart von Luxemburgs «Die Akkumulation des Kapitals». Es ist zugleich der erste Band der neuen Serie «Luxemburg International Studies on Political Economy» – Internationale Luxemburg-Studien zur politischen Ökonomie. Seine Geschichte begann mit einer Ausschreibung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ihrem starken Echo folgte Anfang März 2014 ein internationaler Workshop am Franz-Mehring-Platz.
Die Autorin und Co-Herausgeberin der Publikation Judith Dellheim stellt im Gespräch mit ihrer Kollegin Hanna Szymborska und ihren Kollegen Frieder Otto Wolf, dem Mitherausgeber des Bandes, Jan Toporowski und Michael Brie das neue Buch und die neue Serie vor.
Frieder und Jan, Ihr habt die neue Buchreihe «Luxemburg International Studies on Political Economy» gestartet. Was ist die zentrale Idee dabei? Was macht den Hauptunterschied zu den anderen Serien zur politischen Ökonomie, die in unserer jüngsten Gegenwart erscheinen, aus?
Jan Toporowski: «Politische Ökonomie» ist nun sehr modern geworden, z. B. bei den PolitikwissenschaftlerInnen und den heterodoxen WirtschaftswissenschaftlerInnen. Allerdings ist vieles in der Literatur, in den Buchserien und Zeitschriften von seiner Inspiration her eklektisch, geprägt von liberalen österreichischen Ideen oder eher freier Interpretation Marxscher Konzepte. Diese Buchreihe nimmt jedoch unverwechselbar die systematische politökonomische Arbeit aus den Debatten nach Marx' Tod, zu denen Rosa Luxemburg beigetragen hat, auf und zeigt die Relevanz der Diskussion für die Auseinandersetzung mit den Problemen des heutigen Kapitalismus. Für mich ist der Schlüssel hier die systematische Methodologie, die aus den Debatten abgeleitet und nicht eingebildet ist. Diese Methodologie ist aus der Diskussion von Konzepten, die im 19. Jahrhundert, vor der Herausbildung des reifen Kapitalismus, entwickelt wurden, hervorgegangen und inspiriert zum freien Denken.
Frieder Otto Wolf: In meinem Kopfe ist die zentrale Idee unserer Buchserie, dass Marx den Weg zur Entstehung der kritischen Theorie moderner Gesellschaften und ihrer materiellen Reproduktion als echte wissenschaftliche Anstrengung eröffnet hat. Und dass Luxemburg am meisten für die Erneuerung dieses kritischen Impetus getan hat. Aber eben genau das ist es, was bis heute ihr Werk lebendig gehalten hat. Die gegenwärtige Arbeit auf diesem Gebiet ist wirklich international – internationale Studien sind daher für realen Fortschritt in diesem so wichtigen Feld wesentlich. Aber es scheint eine gewisse Enge des Rahmens und der Teilnahme an verschiedenen anderen Buchreihen zu geben, die wir überwinden wollen – indem wir Interessierte jenseits des traditionellen Felds der marxistischen politischen Ökonomie erreichen. So vergewissern wir uns, dass die teilnehmenden AutorInnen nicht nur aus seit langem bestehenden Debatten und Zirkeln kommen, ohne deswegen jedoch auf AutorInnen zu verzichten, welche auch diese Geschichte haben, aber dazu in der Lage sind, mit ihr kritisch und produktiv umzugehen.
Ihr beide habt mit Luxemburgs «Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus» die Serie eröffnet. Geschah das «nun mal so», aus Zweckmäßigkeit bzw. Pragmatismus oder gibt es einen wichtigeren Grund dafür?
Jan Toporowski: Luxemburgs «Die Akkumulation des Kapitals» ist genau deshalb unser Eröffnungstitel, weil er das systematische Herangehen an die Analyse des Kapitalismus und Imperialismus verkörpert. Luxemburgs Logik, zu verorten, mag fehlerhaft sein, aber nicht ihr Projekt der umfassenden Gesellschaftsanalyse.
Frieder Otto Wolf: Luxemburgs «Akkumulation des Kapitals» markiert immer noch einen Höhepunkt in der Entwicklung der kritischen Theorie der modernen Wirtschaftswissenschaften und der Gesellschaft. Und das Werk fokussiert diese Entwicklung auf die Problematik der gesellschaftlichen Reproduktion. Das Reproduktionsproblem war in früheren Rezeptionen von Marx's «Kapital» nicht vollständig aufgenommen worden. Luxemburg hat es dann grundsätzlich und streng theoretisch bearbeitet, allerdings auf sorgfältige historische Studien gestützt. Dabei hat sie es konsequent vermieden, in die Fallen des Empirismus oder des Theoretizismus zu tappen.
Was sind die nächsten Pläne für die Buchreihe?
Jan Toporowski: Da ist zunächst ein Buch zum Dritten Band des «Kapital». Ich möchte außerdem gerne ein Buch, das Hilferdings «Finanzkapital» überprüft, publizieren. Hilferdings Werk enthält Elemente einer Theorie des Unternehmenskreislaufes, der später fast vollständig von Kalecki und Keynes aufgedeckt und identifiziert wurde. Ich würde es auch gerne sehen, würde in der Reihe mehr von unserem polnischen Politökonomen Tadeusz Kowalik erscheinen. Er war außerordentlich stark von Luxemburg beeinflusst und erkannte die Verbindung zwischen Luxemburg und der Keynesschen Revolution in der ökonomischen Theorie und Wirtschaftswissenschaft.
Frieder Otto Wolf: Ich hoffe, wiederum gemeinsam mit Judith Dellheim, einen weiteren Sammelband von Essays «Der abschließende Band des 'Kapitals' als Herausforderung für unsere Zeit» zu publizieren. Das Projekt würde eine bisher noch verstreute Gruppe von AutorInnen zusammenführen, die versuchen, sich mit Luxemburgs radikalkritischen Augen eines schwierigen Problems anzunehmen, das im abschließenden Band des «Kapital», wie ihn Engels konstruiert hat, zwar klar benannt wird, aber noch nicht überzeugend gelöst wird. Es geht darum, die Manuskripte wie sie nun vollständig publiziert sind, mit den jüngeren und jüngsten theoretischen Entwicklungen zusammenzubringen – um dadurch bessere Instrumente für die Rekonstruktion und Verlängerung von Marx's theoretischen Argumentationen zur Herrschaft des Kapitals im gesellschaftlichen Gesamtprozess zu gewinnen.
Hanna, Jan und Micha, Ihr habt mit einem Text zu dem Buch beigetragen. Was war Eure Motivation, eben dieses Buchkapitel zu schreiben?
Hanna Szymborska: Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg haben die Hocheinkommens-Ökonomien eine beispiellose Transformation der Natur und der Operationen des Finanzsektors erfahren. Die finanzielle Deregulierung und Verbriefung auf der einen und Arbeitsmarktliberalisierung und Privatisierung des Öffentlichen auf der anderen Seite haben die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter untergraben. Die Motivation für mein Kapitel zum Kräfteverhältnis innerhalb der kapitalistischen Ökonomien zur Jahrhundertwende ist, zu sehen, inwiefern Rosa Luxemburgs Werk uns dazu verhelfen kann, die bestehenden Disparitäten besser zu begreifen und zu lindern.
Jan Toporowski: Meine Motivation, dieses Buchkapitel zu schreiben, war, das internationale Verständnis der Arbeit von Tadeusz Kowalik, der soviel für die Wiederbelebung der polnischen Diskussion zu Luxemburgs «Akkumulation» geleistet hat, zu mehren.
Michael Brie: Rosa Luxemburgs Werk «Akkumulation des Kapitals» hat einen völlig neuen Horizont eröffnet, um den Kapitalismus und seine Entwicklung zu verstehen, einen Horizont, den eine allzu enge Lesart des «Kapital» von Karl Marx verschlossen hatte. In diesem Horizont kann auch die notwendige Überwindung der kapitalistischen Zivilisation im 21. Jahrhundert grundlegend neu verstanden werden.
Was war und ist für Dich das wichtigste Interesse, das Du mit dem Buchprojekt verfolgt hast und weiter verfolgst?
Hanna Szymborska: Wegen der erwähnten Veränderungen im Finanzsektor und in der Politik haben die Eigentümer an produktivem und finanziellem Kapital hochflexibles Vermögen akkumuliert, während die arbeitenden und mittleren Klassen unter der nicht nachhaltigen Schuldenakkumulation gelitten haben. Mein Interesse ist es, die Parallelen aufzuspüren, die im Ausgang von Rosa Luxemburgs Theorie gezogen werden können, um die massiven Vermögens- und Einkommensunterschiede in unseren gegenwärtigen Gesellschaften zu verstehen.
Jan Toporowski: Ausgehend von den Begriffen meines intellektuellen und politischen Selbstverständnisses interessiert mich an dem Buchprojekt am meisten, inwieweit meine Forschung zur Verbindung zwischen der Keynesschen Revolution in der Theorie und Politik und der systematischen Arbeit an der marxistischen politischen Ökonomie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts reflektiert wird. Da geht es mir vor allem um das Wirken und die Rolle des polnischen Ökonomen Michel Kalecki, aus denen diese Verbindung hervorgeht.
Michael Brie: Ausgehend von der Analyse jener Diskussionen, die Rosa Luxemburg vor über einhundert Jahren ausgelöst hat, geht es mir darum, die ausstehende sozialökologische, im Kapitalismus ansetzende und über ihn hinausführende Transformation als komplexen Prozess zu begreifen, der das Ganze der Reproduktionsweise ergreift, die Produktions- und Lebensweise umgestaltet, völlig neue Eigentums- und Machtverhältnisse hervorbringt.
Worin besteht Eurer Meinung nach der spezifische Unterschied zwischen diesem Buch und den vielen Texten, die zu Luxemburgs berühmtem Werk publiziert wurden?
Hanna Szymborska: Das vorliegende Buch ist m.E. dahingehend einzigartig, das es einen prägnanten und umfassenden Überblick zu Luxemburgs «Akkumulation des Kapitals» durch in diesem Feld führende Expertinnen und Experten gibt. Dabei geht es allerdings nicht nur um die Feinheiten von Luxemburgs Theorie, sondern auch und insbesondere um ihre anhaltende Wichtigkeit und Relevanz für die Auseinandersetzung mit den Problemen des heutigen Kapitalismus.
Jan Toporowski: Den spezifischen Unterschied zwischen diesem Buch und anderen zu Luxemburgs «Akkumulation» publizierten Büchern würde ich wie folgt erklären: Es geht über die historische Archivarbeit hinaus, die mehr für Details von Bedeutung ist als für das Wissen, für die Kritik von Luxemburgs Logik oder für die Rekonstruktion vergangener historischer Ereignisse. Es gibt die dringende Notwendigkeit, über die Rolle von Geld, Handel, Verteilung und aggregierter Nachfrage in der heutigen Krise des Kapitalismus zu diskutieren. Dafür aber ist das Studium von Rosa Luxemburgs Werk gegenwärtig die effektivste Herangehensweise.
Hanna, Jan und Frieder, was erwartet Ihr von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hinsicht auf das Buch und die Buchreihe?
Hanna Szymborska: ...auch weiterhin Lehren aus Rosa Luxemburgs Arbeit für die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des heutigen Kapitalismus zu ziehen und das Interesse von WirtschaftswissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und Intellektuellen an Luxemburg wiederzubeleben und zu verbreitern.
Jan Toporowski: Der Schlüsselbeitrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung sollte m. E. darin bestehen, derartige Diskussionen voranzutreiben, PolitikerInnen und AktivistInnen mit ExpertInnen und jüngere WissenschaftlerInnen zusammenzuführen, einen klaren aktuellen Fokus auf das Buch und die Buchreihe zu setzen. Die Stiftung kann in ihren internationalen Zusammenhängen und bei ihren Aktivitäten für das Buch und die Buchreihe werben. Schließlich, und das ist eine Erfahrung mit dem ersten Buch in dieser Reihe, kann sie über ihre Unterstützung zur Herausgabe auch weitere Publikationen wesentlich erleichtern.
Frieder Otto Wolf: Auch ich erwarte vor allem, dass die Rosa Luxemburg Stiftung einen Raum dafür bietet, dass sich führende ForscherInnen und AktivistInnen auf strategisch zentralen Feldern der gegenwärtigen Politik austauschen können – und dass sie dabei immer wieder Herausforderungen dafür setzt, diese Debatten politisch zuzuspitzen und sie dabei auch im Sinne einer wirklichen Befreiungsperspektive auf den Punkt zu bringen. Wenn sie dann noch alles täte, um die Ergebnisse dieser Arbeit verbreitet zu sehen, wäre ich mehr als zufrieden.