Das besondere Verdienst der Arbeit von Klaus Holzt liegt, ähnlich wie das von Thomas Haury, in einer begrifflichen Systematisierung und damit auch Erklärung des linken Antisemitismus aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Diese Arbeiten gehen in theoretischer wie methodischer Hinsicht über die bisherigen Betrachtungen des marxistisch-leninistischen Antizionismus hinaus, die mehrheitlich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive erfolgten und damit eher deskriptiven beziehungsweise ad-hoc erklärenden Charakters waren.
Fluchtpunkt von Holz' wissenssoziologischer und systemtheoretisch inspirierter Studie ist ein Begriff von Antisemitismus als Semantik (also als kommunikative, überindividuelle, emergente Sinnstruktur), deren Strukturmerkmale anhand klassischer Texte des Antisemitismus herausgearbeitet werden. Zentral hierfür ‒ und eine hohe Messlatte für zukünftige Untersuchungen, inwiefern Äußerungen tatsächlich antisemitischen Charakters sind ‒ ist die streng methodengeleitete Analyse mithilfe des Instrumentariums der «objektiven» oder «strukturalen Hermeneutik». Dies ist ein rekonstruktives Verfahren der qualitativen Sozialforschung, das es insbesondere erlaubt, durch permanenten textimmanenten Vergleich der Verwendungsweisen von Begriffen latente Sinngehalte zu explizieren (anstatt willkürlich über Subtexte zu spekulieren).
Eines der Hauptcharakteristika in Holz’ Analyse des modernen Antisemitismus, der die Erscheinungen der Moderne (Kapitalismus, Geldwesen, Massenmedien, Sozialismus, Psychoanalyse, Individualisierung, Bindungsverlust, Entwurzelung usw.) einer jüdischen Verschwörung zuschreibt, ist die damit einhergehende Konstruktion einer Wir-Gruppe, wobei insbesondere die Konstitution nationaler Kollektive eine Affinität zum Antisemitismus aufweise. Nach Holz’ Ansicht ist dieser moderne Antisemitismus nicht losgelöst von der Entstehung des bürgerlichen Staates und der diesen Prozess begleitenden Ideologie des Nationalismus zu betrachten. Das «Wir» im modernen Antisemitismus sei meist eine Konstruktion von Volk und Nation gegen die Juden. Gegen dieses nationale «Wir» fungierte das «Jüdische» als absolutes Gegenprinzip, weil es nicht nur als äußerer Feind wahrgenommen wurde (wie möglicherweise andere Nationen), sondern gleichsam als Bedrohung von innen und durch seine Internationalität als Bedrohung des nationalen Prinzips als solchem.
Innerhalb dieses Analyserahmens werden unterschiedliche Ausprägungen des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert untersucht. Eines (und das hier besonders interessierende) von acht Kapiteln des insgesamt über 600 Seiten umfassenden Werkes widmet sich anhand der Gerichtsakten des Slánský-Prozesses dem «marxistisch-leninistischen Antizionismus» (ML-Antizionismus). In den neu in den sowjetischen Einflussbereich gelangten osteuropäischen «Volksdemokratien» fanden in den letzten Jahren vor Stalins Tod bizarre Schauprozesse gegen kommunistische Funktionäre statt. Besonders der Prozess gegen Rudolf Slánský in der ČSSR (1952), bei dem 11 der 14 Angeklagten Juden waren, verbarg seine antisemitische Stoßrichtung nicht. Zionismus geriet in diesem Gerichtsverfahren neben Kosmopolitismus, Trotzkismus und Titoismus zu einem der wichtigsten Anklagepunkte. Er wurde aber jetzt nicht mehr als jüdischer Nationalismus kritisiert, wie im klassischen Marxismus, sondern stattdessen als «Agentur des amerikanischen Imperialismus« angegriffen. In verschwörungstheoretischer Manier wurden Jüdinnen und Juden für vielfältige Probleme der «Volksdemokratien» verantwortlich gemacht.
Zionismus wurde, von seiner ursprünglichen Bedeutung abstrahierend, sinnentleert zur Formel für einen zerstörerischen Dämon. Bei den als Anhänger*innen des Zionismus Beschuldigten hob man jeweils die jüdische Herkunft hervor. Sie waren oftmals hohe Parteifunktionäre; rückwirkend wurde aber eine Geschichte langjähriger Zersetzungstätigkeit konstruiert. Dabei erfolgte ihr nachträglicher Ausschluss aus allen gemeinschaftlichen Zusammenhängen, insbesondere aus dem in der Konstituierungsphase der neuen kommunistischen Staaten extrem affirmierten «Volksgemeinschaft». Der Semantik des nationalen Antisemitismus entsprechend galten sie als interne «Volksfeinde». Dem imperialistischen Gegner werden im ML-Antiimperialismus generell (und immer affirmativ) die ‹Völker› entgegengesetzt. Dabei bleibt eine Ambivalenz in den Begriffen ‹Volk› oder ‹Nation›, die sowohl klassentheoretisch (ökonomisch) als auch ethnisch-national bestimmt werden können. So wird «die affirmative Referenzgröße ‹Wir› doppelt bestimmt» (S. 480), nämlich als werktätige ‹Völker›. Mit diesem Begriff legitimieren sich die Volksdemokratien als «Volksparteigemeinschaften» (S. 482). Durch die jeweilige Auswahl der möglichen Bestimmungen von «Volk» oder «Nation» ist die Voraussetzung gegeben, zwischen «unterdrückten» und «unterdrückenden» Nationen klassentheoretisch zu unterscheiden.
Diese Konstruktion bringt notwendigerweise Inkonsistenzen mit sich, die ideologisch verschleiert werden müssen. So ist kein Klassenkampf mehr möglich, wenn Volk und Klasse in eins fällt; zudem kann der Marxismus-Leninismus in seiner zumindest in Resten noch vorhandenen aufklärerischen Tradition nicht die Shoah leugnen oder ausschließen, dass auch «Juden zu uns» gehören. «Insofern verhindert der Marxismus-Leninismus, auf der Ebene der Semantik eine radikale Lösungsperspektive ‹der Judenfrage› zu entwickeln» (482). Holz spricht von einer Camouflage als «Struktursicherungsoperation» der Semantik. Die Camouflage finde ihren Ausdruck insbesondere im Begriff Antizionismus; denn es gebe beileibe kein offenes Bekenntnis zum Antisemitismus. Doch die oben geschilderte jeweilige konkrete Anwendung des Antizionismus lasse keinen anderen Schluss zu, wer wirklich gemeint ist – und entsprechend zum Opfer von Diskriminierung, Ausschluss und, letztlich in einigen Fällen, Ermordung wird: Jüdinnen und Juden.
Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001: Hamburger Edition (616 S., 24 €).