Nachricht | Antisemitismus (Bibliographie) - Nahost und Antisemitismus in der BRD - Antisemitismus Holger Knothe: Eine andere Welt ist möglich – ohne Antisemitismus?, Bielefeld 2009.

Antisemitische Tendenzen in der Globalisierungskritik und insbesondere bei Attac wurden immer wieder auch und gerade in den großen deutschen Medien skandalisiert. Knothe macht dies zum Ausgangspunkt seiner Doktorarbeit.

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Peter Ullrich,

Antisemitische Tendenzen in der Globalisierungskritik und insbesondere bei Attac wurden immer wieder auch und gerade in den großen deutschen Medien skandalisiert. Knothe macht dies zum Ausgangspunkt seiner Doktorarbeit. Nach einer einleitenden Diskussion der Antisemitismustheorien, unter denen er die Beiträge der kritischen Theorie (sekundärer Antisemitismus, autoritäre Persönlichkeit) und Thomas Haurys (Strukturaffinität, antiimperialistisches Weltbild) besonders hervorhebt, untersucht er Ereignisse und Äußerungen von und im Rahmen der Aktivitäten von Attac. Es geht ihm darum, auf diskursiver Ebene Anschlüsse an antisemitische Denk- und Argumentationsmuster oder konkret an rechte Kreise aufzuzeigen.
 

Ersteres sieht er in der essenzialisierenden Wahrnehmung der USA und Israels sowie in Narrativen, die mit antisemitischen Weltbildern kompatibel sind, nicht zuletzt in der Ökonomiekritik (Wucher). Beispiele für letzteres seien Versuche von Neonazis, sich an Attac-Veranstaltungen zu beteiligen, und eine Bündnispolitik, die antisemitische Personen und Positionen von islamistischen Gruppierungen toleriere. Verschiedene Beispiele wie Verschwörungstheorien, antisemitische Karikaturen und die häufige Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus werden zur Verdeutlichung angeführt.
 

Gleichzeitig postuliert Knothe eine Ambivalenz. Ein «pauschaler Antisemitismusverdacht» sei wenig hilfreich (S. 132), und die Inflationierung des Antisemitismusvorwurfs in Fällen der «Anschlussfähigkeit» könne dazu führen, dass tatsächlicher, manifester Antisemitismus relativiert würde. Gegen eine grundsätzliche Charakterisierung Attacs als antisemitisch sprechen: die Heterogenität des Netzwerks, die Tatsache, dass verschwörungstheoretische oder personifizierende Weltsichten (verkürzte Kapitalismuskritik) nur von einem Teil der Akteure innerhalb Attacs vertreten würden, und insbesondere, dass die explizite Ethnisierung des Gegners als «jüdisch» quasi nicht vorkomme. Knothes Schluss: Es gibt keine antisemitische Ideologie bei Attac, doch strukturelle Affinitäten.
 

Ein empirisches Kapitel mit Dokumentenanalysen (in das allerdings nur ein gewisser Teil der zum Thema vorhandenen Positionierung aus dem Umfeld von Attac einging) untersucht dann die Auseinandersetzung mit der Thematik innerhalb der Organisation Attac. Mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse werden folgende Arten des Umgangs mit der Antisemitismusdiskussion beziehungsweise mit den Antisemitismusvorwürfen vonseiten Attacs herausgearbeitet: Nichtwahrnehmung, Abwehr und Projektion, Relativierungen und Differenzierungen, Ritualisierung, «Beifall von der falschen Seite», Homogenisierung der Kritiker*innen, Problemwahrnehmung und schließlich Reflexion. Allerdings überwiege bei Attac Deutschland, etwas anders als zum Beispiel bei Attac Österreich, die Abwehr.
 

Abschließende Überlegungen gehen der Frage nach, wie eine Reflexion der Problemstellen erreicht werden kann, ohne Abwehr zu forcieren. Dazu gehört beispielsweise die strikte Trennung (in pädagogischer Absicht) zwischen der diskursiven Bedeutung und den Intentionen von Äußernden, wie sie im falschen Vorwurf «Antisemit!» aufscheinen können. Zweitens geht es um das Aufklären über antisemitische Strukturen und das dauerhafte Einnehmen einer selbstreflexiven Haltung. Doch Attacs angestrebte andere Welt sei belastet vom «blinden Fleck» Antisemitismus.
 


Knothe, Holger: Eine andere Welt ist möglich – ohne Antisemitismus?, Bielefeld 2009: transcript Verlag (214 S., 24,80 €).