Publikation Deutsche / Europäische Geschichte - 30 Jahre 89/90 Prüfung «nicht bestanden!»

Der Elitenwechsel in Ostdeutschland und seine Folgen

Information

Erschienen

Juni 2019

Zugehörige Dateien

Foto: Jürgen Angelow

Der weiträumige und zeitlich unbegrenzte Wechsel der ostdeutschen Eliten nach 1990 war und ist ein historischer Fehler und beileibe kein Erfordernis der «friedlichen Revolution». Er wird immer wieder durch aktuelle Statistiken gestützt,[1] die allerdings weitgehend folgenlos bleiben. Die ihm zugrunde liegenden Interessen und Impulse sind sehr vielfältig, sie bestehen bis heute fort.

Dr. phil. habil. Jürgen Angelow ist Historiker, Politikberater und Publizist. Er hat in Leipzig studiert, in Potsdam promoviert und sich dort habilitiert. Seine Forschungsgebiete sind die Internationalen Beziehungen und die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Neueste Veröffentlichungen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges sowie zur Elitenproblematik. Jürgen Angelow: Entsorgt und ausgeblendet. Elitenwechsel und Meinungsführerschaft in Ostdeutschland, Welttrends, 2., erweiterte Auflage, Potsdam 2017.

Wenn hier von Eliten die Rede ist, sind Funktionseliten gemeint. Die Forschung unterscheidet Macht- und Funktionseliten, die sich in Teileliten aufgliedern lassen.[2] Allgemein ist an eine Elitenposition Entscheidungskompetenz gekoppelt, also die Übernahme von Verantwortung, ebenso auch die Möglichkeit, soziale Orientierung anzubieten, Perspektiven zu vermitteln und das Klima einer Gesellschaft zu prägen. Neben der funktionalen Bedeutung besitzen Eliten auch die Möglichkeit, strategisch zu handeln und als Vorbild zu wirken.[3] Eliten sind gegenüber der Bevölkerung durch starke innere Interaktionen, gemeinsame Werte und auch durch bestimmte Privilegien charakterisiert.[4]

Eliten werden auch nach ihrem Besitz an «sozialem Kapital» definiert. Damit ist die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen gemeint, die mit der Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sein können.[5] Soziales Kapital ist Beziehungskapital, es bietet für die bzw. den Einzelne*n einen Zugang zu den Ressourcen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens wie Unterstützung, Hilfeleistung, Anerkennung, Wissen und Verbindungen bis hin zum Finden von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Soziales Kapital ist von außerordentlicher Wichtigkeit für das Funktionieren von sozialen Netzwerken und auch für den Spielraum, den der bzw. die Einzelne in diesen Netzwerken besitzt. Es ist eintauschbar und reproduziert sich über Transaktionen, wie gegenseitige Geschenke, Gefälligkeiten, Besuche und Ähnliches. Da es sich um vertraglose Austauschbeziehungen handelt, besteht ein hohes Schwundrisiko, falls sich die Transaktionsbedingungen ändern, etwa im Falle von politisch-sozialen Umbrüchen. Dann können Beziehungen entweder abreißen oder wertlos werden. Anerkennung für bestimmte Leistungen oder Haltungen in einem System können bei veränderten Wertmaßstäben in einem anderen System direkt ins Gegenteil umschlagen. Die Entwertung des ostdeutschen Sozialkapitals hat beim Vereinigungsprozess eine entscheidende Rolle gespielt.

Obwohl der Begriff Eliten in einer anti-elitären Gesellschaft mit egalitärer Vision umstritten war,[6] hat es natürlich auch in der DDR Eliten gegeben. In Bezug auf die DDR ist von einer relativ kleinen Machtelite, bestehend aus den Spitzenfunktionär*innen des SED-Apparates und der Blockparteien sowie den höchsten staatlichen Funktionsträger*innen, und von einer sozialistischen Funktionselite die Rede, die gegen Ende ihrer Existenz auf rund 250.000 Personen beziffert werden kann und einen Teil der «Nomenklatur» des SED-Systems sowie die Leitungskader umfasste.[7] Erweitert man den Begriff und zählt alle «Nomenklaturkader» hinzu, kommt man auf rund 340.000 Personen. Wenn auch die mittleren und unteren Funktionär*innen der Parteien und Massenorganisationen, des Staates, der Kultur und Wirtschaft hinzutreten, dann zählten etwa 1,5 Millionen Personen zur sozialistischen Funktionselite. Von ihrem Schicksal ist hier die Rede.

Wer gehörte zur Funktionselite in der DDR?

Der Anfang Oktober 1989 auf den Leipziger Montagsdemonstrationen skandierte Ruf «Wir sind das Volk!» markierte den Bruch zwischen dem Volk und den Mächtigen, die sich vom Volk isoliert hatten. Die Absage richtete sich an die Herrschaftselite der DDR, die auf rund 500 bis 600 Personen beziffert wird und deren Führungskern etwa 40 Personen umfasste.[8] Mit der Parole waren aber nicht jene Hunderttausende gemeint, die in der DDR Führungsverantwortung innehatten und als Ärzt*innen, Lehrer*innen, Ingenieur*innen, Wissenschaftler*innen, Jurist*innen oder Offizier*innen selbst zum DDR-Volk gehörten. Ein Teil dieser Führungsgruppen war traditionellen sozialen Milieus verhaftet, die als ideologiefern galten, etwa Ärzt*innen, ein Teil der Professor*innen und der technischen Intelligenz sowie die Pfarrer*innen. Sie definierten Bildung als Fundament ihres kulturellen Selbstverständnisses und ihrer Elitezugehörigkeit. Andere Gruppen, vor allem die Multiplikatoren und Exekutoren des Herrschaftsapparates, waren ideologisch affiner.[9] Macht- und Funktionseliten waren in der DDR nicht identisch, ihr Verhältnis war differenziert. Es schloss Nähe und Entfernung gleichermaßen ein. Peter Hübner beschreibt diesen Zusammenhang als eine «spannungsgeladene Symbiose».[10] Die Systemloyalität der Funktionselite ist allerdings eine idealtypische Konstruktion. In der Realität war sie oftmals weniger ausgeprägt, gerade bei der Gruppe der hoch qualifizierten Fachangestellten in politikferneren Bereichen und auch bei systemkritischen Vertreter*innen in Politik, Medien und Verwaltungen. Zum anderen ist sie auch in demokratischen Staaten eine Voraussetzung für den Aufstieg in höhere Positionen des Öffentlichen Dienstes oder für eine Ernennung zum Beamten bzw. zur Beamtin,[11] also nicht von vornherein verurteilenswert.

Das Ende der ostdeutschen Funktionselite

Bei der Ablösung der ostdeutschen Eliten nach 1989 sind frühere historischen Erfahrungen unbeachtet gelassen worden, die auf Arrangements zwischen «alten» und «neuen» Eliten abzielten. Eine entsprechende Bereitschaft zum Arrangement hatte aufseiten der ostdeutschen Funktionseliten bestanden. Mit der Idee einer Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, wie sie die Demonstrationen des Spätherbst 1989 bestimmte, war zunächst eine riesige Aufbruchshoffnung in Ostdeutschland verbunden, die auch große Teile der Eliten erfasste. Die nach dem Mauerfall am 9. November 1989 gewonnene Reisefreiheit erschloss Möglichkeiten der beruflichen und privaten Selbstverwirklichung, die wenige Wochen zuvor noch undenkbar waren. Befreit von politischer Gängelung, schien nun die Möglichkeit zu bestehen, Talente und Anlagen auszubauen sowie kreative Potenziale freizusetzen, die im alten System oftmals kanalisiert worden oder weniger gefragt waren. Andererseits führte der nun eingeleitete gesellschaftliche Wandel bereits sehr frühzeitig zu einer scharfen Polarisierung der ostdeutschen Gesellschaft, zu einer sich später noch verstärkenden Entsolidarisierung und zu einem enormen Anpassungsdruck, dem vor allem die Vertreter*innen der bisherigen Eliten ausgesetzt waren.

Führende Vertreter*innen des SED-Staates hatten – nach dem Sturz Erich Honeckers am 18. Oktober 1989 – ihren Hut nehmen müssen. Die Rücktritte erfassten am 3. Dezember schließlich das gesamte Politbüro und ZK der SED. Bereits zwei Tage zuvor war der Führungsanspruch der SED aus der DDR-Verfassung gestrichen worden. Von Oktober bis Dezember 1989 vollzog sich parallel hierzu die erste Elitentransformation. Insgesamt schieden in diesem Zeitraum 57 Prozent der ehemaligen Inhaber*innen von Spitzenpositionen aus ihren Ämtern aus, das waren 454 Personen.[12] Mit diesem Akt war das Gros der Machtelite der DDR ausgeschaltet und die symbiotische Beziehung zwischen ihr und den Funktionseliten zerrissen.

In der Regierungszeit Hans Modrows ab dem 13. November 1989 hatte es einen zweiten Schub von Umstrukturierungen innerhalb der DDR-Eliten mit dem Ziel gegeben, sich der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen. Betroffen war vor allem die Exekutive, und den Anfang machte die Staatssicherheit, die im Zentrum der Bürgerproteste gestanden hatte. Auf Drängen des seit dem 7. Dezember einberufenen Zentralen Runden Tisches, der der Modrow-Regierung durch Einbindung von Vertreter*innen der oppositionellen Neugründungen eine stärkere Legitimationsbasis verlieh, wurde das Ministerium für Staatssicherheit durch den DDR-Ministerrat am 14. Dezember 1989 aufgelöst. Zum 31. März 1990 waren alle Mitarbeiter*innen des Staatssicherheitsdienstes entlassen, sofern sie nicht noch für die Erschließung der Akten ihres abgewickelten Ministeriums gebraucht wurden. Auch viele Funktionär*innen der SED und der ehemaligen Blockparteien waren nun gezwungen, sich beruflich umzuorientieren. Die Positionen wurden zunächst aus der systemkonformen Gegenelite, der zweiten Reihe der SED und der Blockparteien rekrutiert, nach den Volkskammerwahlen im März 1990 und der Bildung der Regierung unter Lothar de Maizière auch aus dem Bereich der systemkritischen Gegenelite der Bürgerrechtsbewegung.

Der unter de Maizière eingeleitete dritte Transformationsschub betraf führende Positionen in Wirtschaft und Militär, unter anderem die Kombinatsdirektoren und die Generalität der Nationalen Volksarmee.[13] Den Abgängen standen nur wenige oder gar keine Neuzugänge gegenüber, sodass sich bald Vakanzen ergaben. Festzuhalten bleibt, dass zum Ende der DDR die ehemalige Machtelite ausgeschaltet und zentrale Positionen der Funktionselite bedeutend geschwächt waren. Damit war die Forderung der Demonstrant*innen in der Phase der friedlichen Revolution «Wir sind das Volk!» erfüllt. Es ergab sich nun die Möglichkeit, die verbleibenden Vertreter*innen der DDR-Funktionselite zu integrieren, den ostdeutschen Elitenpool weiter für Seiteneinsteiger*innen offenzuhalten und eine innere Verbindung der erneuerten ostdeutschen mit den westdeutschen Eliten herbeizuführen.

Hierfür waren im Einigungsvertrag wichtige Vorentscheidungen getroffen worden. Diese erwiesen sich in der Praxis allerdings als weitgehend wertlos. So hatte die Regierung Lothar de Maizière dem Problem der Entwertung ostdeutscher Bildungsabschlüsse mit dem Einigungsvertrag entgegengesteuert, dessen Artikel 37, Absatz 1 die Feststellung der Gleichwertigkeit der entsprechenden Diplome in Aussicht stellte. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Bestimmung in einem Grundsatzurteil am 10. Dezember 1997 präzisiert und die Feststellung getroffen, dass ausgehend von der besonderen Situation der Deutschen Einheit eine Gleichwertigkeit von Abschlüssen im Sinne des Einigungsvertrages auch bei solchen Abschlüssen anzunehmen ist, denen Ausbildungsgänge zugrunde liegen, die erhebliche fachliche Unterschiede aufweisen.[14]

Ungeachtet dieser für die ostdeutschen Resteliten insgesamt günstigen Rechtslage und den erhofften Möglichkeiten erfolgte der entscheidende Schub der Elitentransformation nach dem Beitritt der ostdeutschen Länder zum Grundgesetz. Die Praxis des bundesdeutschen Rechtsstaates zeigte, dass das Vertrauen in den Einigungsvertrag nachträglich keine realpolitische Grundlage mehr besaß. Von den Abwickelungen und Entlassungen waren nicht nur die Vertreter*innen der «alten» Elite, sondern auch diejenigen der systemkonformen und die der systemkritischen Gegenelite betroffen. Dieser personelle Umbruch im ostdeutschen Elitengefüge war außerordentlich tief und er wirkt ohne jede zeitliche Begrenzung bis heute fort. Es handelt sich also nicht um ein lediglich vorübergehendes Phänomen, wie einige Zeit angenommen worden ist.[15]

Wie kam es zum Elitenwechsel trotz Einigungsvertrag?

Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung, die mit dem Geist des Einigungsvertrages so wenig gemein hat? Die Aufbruchs- und Emanzipationshoffnung der Ostdeutschen sowie ihre Erwartung einer sozial gesicherten Weiterexistenz waren mit dem Wunsch der Westdeutschen kollidiert, eigene Führungskräfte im Osten zu implementieren, um Kontrolle über die neuen Länder zu gewinnen und vor allem eigene berufliche Aufstiegschancen wahrzunehmen, die ihnen im Westen oft versagt geblieben waren. Vielfach erfolgte der Elitenwechsel auf den unteren Etagen nun im Zusammenwirken von ost- und westdeutschen Entscheidungsträger*innen – quasi als «Selbstentsorgung» der Ostdeutschen. Vor dem Hintergrund zum Teil künstlich verringerter Bedarfe und einer differenzierten Motivlage, die von Existenzangst bis zu Strebertum reichte, übte die verlockende Möglichkeit eine große Anziehungskraft auf potenzielle ostdeutsche Aufstiegswillige aus, sich im Berufsleben auskömmlich, wenn auch in untergeordneter Stellung zu verankern, um womöglich später aufzusteigen. Sie war allerdings an deren Bereitschaft geknüpft, andere Ostkolleg*innen auszusortieren oder westdeutschen Bewerber*innen die gewünschten Positionen zu verschaffen. Was hier an Denunziation und Widerwärtigkeit stimuliert und exekutiert wurde, hat alles bis dahin Denkbare in den Schatten gestellt und tatsächlich zu einer «Verzwergung» vieler Ostdeutscher geführt.[16] Nicht immer gingen die Rechnungen auf. Viele der «Hilfsbereiten» konnten ihre errungenen Posten nicht langfristig stabilisieren oder waren danach beruflich blockiert. Aber wo sie aufging, erfolgte tatsächlich so etwas wie eine Elitenvermischung, zulasten anderer Ostdeutscher, die jene Biegsamkeit nicht aufbrachten.

Die Frage nach dem Verbleib des ostdeutschen Führungspersonals ist in Abhängigkeit von den jeweiligen Positionen der Betreffenden Mitte der 1990er Jahre statistisch erfasst und anschließend beschrieben worden.[17] Anne Goedicke unterscheidet eine erste, zweite und dritte Reihe von Verantwortungsträger*innen, wobei sich die erste Reihe aus den DDR-Spitzenfunktionär*innen und letztere sich aus den Kadern der oberen und mittleren Leitungsebene und/oder hoch qualifizierten, professionell ausgebildeten Angestellten rekrutierten. Während die Spitzenfunktionär*innen angesichts ihres meist hohen Alters durch reguläre oder vorgezogene Verrentung unspektakulär aus dem Erwerbsleben ausgeschieden werden konnten, wurde die Entlassung der Generalität und der obersten Richter*innen mit deren Untragbarkeit wegen «Systemnähe» begründet.[18] Eine Entlassung der zweiten und dritten Reihe, das heißt einiger Offizier*innen, der ökonomischen Abteilungsleiter*innen, Bürgermeister*innen, Lehrer*innen, Ingenieur*innen, Naturwissenschaftler*innen, Ärzt*innen und Künstler*innen war zunächst nicht möglich, sofern man den Betreffenden keine Kontakte zum Staatssicherheitsdienst nachweisen konnte. Diese Gruppen bildeten eine wichtige Kompetenzreserve bei der Übertragung westdeutscher Verhältnisse auf die ostdeutsche Gesellschaft. Man griff auf sie zurück, als es darauf ankam, das politisch-soziale System der Bundesrepublik in den östlichen Bundesländern zu verankern. In der Folge waren aber auch sie stark von sektoralen und einzelbetrieblichen Reorganisationen betroffen, etwa im Bereich der Bundeswehr, der Wirtschaft, der Verwaltungen, der Justiz und der Universitäten. Diese Reorganisationen haben häufig zum Verlust von Arbeitsplätzen, zur Herabstufung oder zur Befristung, also zur Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen geführt[19] und bei den ehemaligen DDR-Eliten im Bereich der professionell Ausgebildeten die Erfahrung des Benutzt- und Weggeworfenwerdens verfestigt.

Sofern diese Vorgänge überhaupt begründet werden mussten, kam hier das Argument spezifischer Qualifikationsanforderungen zum Tragen. So konnten ehemalige Leitungsangestellte der Verwaltungen natürlich keine bundesdeutschen Berufsabschlüsse vorweisen, insbesondere fehlten ihnen die juristischen Examina. Diesen mangelnden Laufbahnvoraussetzungen hätte abgeholfen werden müssen, um die Gleichwertigkeit von Ost- und Westdeutschen auf dem Arbeitsmarkt sicherzustellen, wie es dem Geist des Einigungsvertrages und dem im Grundgesetz verankerten Prinzip der «Chancengleichheit» entsprochen hätte. Dies geschah allerdings nicht oder in einem viel zu geringen Ausmaß, um die gewünschte Neubesetzung der Führungspositionen im Verwaltungsdienst nicht zu gefährden.

Die Folge war, dass die von Ostdeutschen aufgegebenen Positionen in geringerem Maße von ostdeutschen Seiteneinsteiger*innen, vor allem aber von nachrückenden westdeutschen Bewerber*innen eingenommen wurden, die nicht nur die geforderten Qualifikationen besaßen, sondern zusätzlich von den inzwischen gut funktionierenden Westseilschaften im Bereich der Verwaltungen profitieren konnten. Die Ostdeutschen landeten in der Arbeitslosigkeit, in Umschulungsmaßnahmen, in neuen Berufen und in der kleinstbetrieblichen Selbstständigkeit als Vertreter*innen für verschiedene Unternehmen, Finanz- und Steuerberater*innen, Versicherungsleute, Wachschutzbeauftragte, Taxifahrer*innen, Würstchenverkäufer*innen und so weiter. Ein großer Teil der ehemaligen DDR-Eliten, gerade auch der oberen Dienstklasse, fand sich in einer freiberuflichen oder selbstständigen Tätigkeit wieder, wobei die Gründer*innen zwar auf Managementkompetenzen und anfänglich auch Netzwerkbeziehungen zurückgreifen konnten, allerdings oft ohne oder mit nur geringem Eigenkapital dastanden und ihre Gründung überhastet, aus Angst vor dem sozialen Absturz bzw. Statusverlust betrieben hatten. Oft wiesen diese selbstständigen Existenzen keine hohe Überlebensdauer auf.

Verheerende Folgen für die politische Kultur

Die sozialen Folgen des Elitenwechsels für die ostdeutschen Länder und die politische Kultur der Bundesrepublik insgesamt sind verheerend: Drei Aspekte scheinen besonders relevant zu sein. Durch die Entsorgung der älteren ostdeutschen Elitenvertreter*innen der «integrierten Generation», auf die die Wiedervereinigung wie eine «Abrissbirne» gewirkt hatte,[20] zerbrach der ostdeutsche Generationenzusammenhang – im Sinne einer Generationen-umspannenden Erzähl- und Unterstützungsgemeinschaft. Dies führte zu einer signifikanten Schwächung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Die Älteren konnten ihre Biografien nur noch geschönt erzählen, verloren jede Möglichkeit, den Jüngeren Unterstützung zu geben, wurden untereinander entsolidarisiert und von den «Jüngeren» zum Teil «überholt». Jana Hensel beschreibt das Schicksal der «integrierten Generation» am Beispiel ihrer Eltern, die ihr angehörten: «Unsere Eltern waren in keinem Nachwendealltag angekommen. […] Unsere gemeinsame Geschichte endete an dem Tag, als die Mauer fiel. […] Unser Band zu ihnen war zu dünn. Es reichte gerade einmal für Verständnis, Rührung und eine ziemliche Portion Mitleid. Unsere Eltern […] sind müde und ein bisschen alt für die neue Zeit. Sie sind die Sitzenbleiber einer anderen Epoche.»[21]

Auch die Chancen der nachrückenden «distanzierten»[22] bzw. «entgrenzten Generation»,[23] das heißt derjenigen, die während der deutschen Wiedervereinigung das dritte Lebensjahrzehnt noch nicht vollendet hatten, hatten sich nur scheinbar verbessert. Die Abhängigkeit von ihrer Elterngeneration und deren Unterstützungsfunktion war einer neuen Abhängigkeit von externen Entscheidungsträgern gewichen, die nach eigener Interessenlage entschieden und oftmals nur temporäre Arrangements zuließen. Aufstiegschancen blieben aus, wenn den Betreffenden die habituellen Voraussetzungen für eine Aufnahme in den gesamtdeutschen Elitenpool fehlten. Um ihre Existenz zu behaupten, klammerten sie sich an erreichten Positionen fest, gingen weniger Risiken ein und begingen Karrierefehler. In direkter Konkurrenz mit den nachdrängenden westdeutschen Anwärter*innen besaßen sie die schlechteren Karten. Daraus folgte Enttäuschung, die als ein Ansatzpunkt für politische Radikalisierungen missbraucht werden kann.

Für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist die Inklusion aller ihrer Mitglieder nicht unbedingt notwendig. Für dieses Vorgehen einer «negativen Integration» gibt es historische Beispiele. Das verweigerte Arrangement macht dann Sinn, wenn den zunächst Ausgegrenzten die Möglichkeit gegeben werden soll, eine Katharsis oder einen Erfahrungswandel zu durchleben und in der neuen Gesellschaft anzukommen. Dies wird dann kontraproduktiv, wenn ihnen eine Zukunftsperspektive dauerhaft verschlossen bleibt. Jemanden 30 Jahre «vor der Tür stehen zu lassen» wird unweigerlich zu Kränkungen führen, die in einer grundlegenden Ablehnung des Systems und einer retrospektiven Selbstvergewisserung münden, die notwendig ist, um das eigene emotionale Gleichgewicht wiederzufinden. Geschieht dies massenhaft, sind kulturelle Distanzierung und eine Radikalisierung des politischen Systems naheliegend. Die «politische Klasse» der Bundesrepublik will bis heute nicht wahrhaben, dass die Wahlerfolge radikalisierter Populisten im Osten auch auf die Erfahrung der Enttäuschung vieler Ostdeutscher zurückzuführen sind.

Die deutsch-deutsche Geschichte ist miteinander verflochten. Auch das Thema der Osteliten kann nicht verhandelt werden, ohne die Erfahrungen, Interessen und Aktivitäten der westlichen Parallelgenerationen in den Blick zu nehmen, auf die hier nicht dezidiert eingegangen werden kann:[24] Der unerwartete schnelle Zerfall der sozialistischen Ordnung in der DDR hat den bis dahin mehrheitlich mit Desinteresse oder wenig Empathie betrachteten Osten stärker in das Blickfeld der westdeutschen Eliten und Aufsteigergruppen gerückt. Es bestand das Bedürfnis, bis dahin bestehende Asymmetrien sowie Überlegenheitsgefühle zu stabilisieren und gleichzeitig strukturelle Probleme der eigenen Arbeitswelt zulasten der Ostdeutschen auszulagern.

Der anfängliche Wissensvorsprung der westdeutschen Aufsteigergruppen, ihre große Mobilität, der hohe Grad der inneren Vernetzung sowie ihr Prestige haben Anfang der 1990er Jahre gegenüber der höheren regionalen Kompetenz ihrer ostdeutschen Mitbewerber*innen deutlich triumphiert. Deren Selbstvertrauen war erschüttert und sollte in der Folge durch die «Aufarbeitungsindustrie» immer weiter erschüttert werden, ein Überleben schien nur in vergleichsweise subalterner Position sowie in Kooperation mit westdeutschen Entscheidungsträger*innen möglich. Das in vergleichbaren historischen Situationen (etwa dem Vereinigungsprozess von 1864–71) normalerweise vorhandene Erfordernis, auf unterlegene oder konkurrierende Elitenvertreter*innen zuzugehen, sofern sie integrationswillig und nicht durch kriminelles Verhalten diskreditiert waren, bestand nicht. Obwohl selbst die Leibgardist*innen des verbrecherischen NS-Systems in der Bundesrepublik mit Nachsicht behandelt und zu großen Teilen integriert worden waren, wurden die Funktionsträger*innen eines Staates, dessen Länder aus freien Stücken der Bundesrepublik beigetreten waren, unnachsichtig verfolgt. Die Pointe dabei ist, dass die nachträglich als falsch apostrophierte Nachsicht gegenüber den einen mit der nun notwendigen Vorsicht gegenüber den anderen begründet werden kann.

Frei werdende Positionen innerhalb des Elitenpools wurden und werden in der Regel mit westdeutschen Vertreter*innen besetzt. Misstrauen, habituelle Unverträglichkeiten und «Stallgeruch» sowie landsmannschaftliche Affinitäten geben hierfür den Ausschlag. Da diese Möglichkeit bis heute fortbesteht und keine politische Partei bereit ist, dem entgegenzuwirken, verschiebt sich die Repräsentanz im Osten immer mehr zugunsten Westdeutscher. Davon ist inzwischen auch die nach 1975 geborene «3. Generation Ost» betroffen. Die Erwartung, dass die Nutznießer*innen und Akteur*innen eines Systems bereit sind, bestehende Praktiken zugunsten anderer Gruppen zu ändern, ist illusorisch; Egoismus und mangelnde Verantwortung für das Ganze haben sie diese Prüfung des deutschen Einigungsprozesses nicht bestehen lassen. – Eine Änderung ist nicht in Sicht. Sie setzt Durchsetzungsfähigkeit der einen und Einsichtsvermögen der anderen voraus, die beide nicht in Rechnung gestellt werden können. Der historische Fehler wird perpetuiert, seine politisch-kulturellen Folgen sind verheerend.
 


[1] Decker, Markus: Ostdeutsche in den Eliten unterrepräsentiert, in: Hannoversche Allgemeine, 9.11.2018, unter: www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Ostdeutsche-in-den-Eliten-unterrepraesentiert.

[2] Vgl. und weitere Belege bei: Hübner, Peter: Einleitung. Antielitäre Eliten?, in: ders. (Hrsg.): Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR, S. 9–35, hier S. 10.

[3] Bluhm, Harald: Eliten. Eine ideengeschichtliche Betrachtung zu einem rhetorisch-politischen Begriff, in: Berliner Debatte INITIAL 1/2000, S. 79.

[4] Krämer, Raimund: Res Publica. Eine Einführung in die Politikwissenschaft, in: Welttrends Lehrtexte 18, Potsdam 2014, S. 60.

[5] Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt Sonderband 2), Göttingen 1983, S. 183–198, insb. S. 198.

[6] Vgl. Hübner, Eliten, S. 17–21.

[7] Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995, S. 73. Ebenso: Hübner, Eliten, S. 10.

[8] Ebd.

[9] Zu den Milieus innerhalb der DDR-Eliten: Bauerkämper, Arnd: Kaderdiktatur und Kadergesellschaft. Politische Herrschaft, Milieubindungen und Wertetraditionalismus im Elitenwechsel in der SBZ/DDR von 1945 bis zu den sechziger Jahren, in: Hübner, Eliten im Sozialismus, S. 37–65.

[10] Ebd., S. 14.

[11] Jeder Beamte in der Bundesrepublik Deutschland hat gemäß § 58 Abs. 1 BBG einen Diensteid zu leisten, dessen Verweigerung seine Entlassung zur Folge hat (§ 28 Nr. 1 BBG), unter: www.dbb.de/themen/themenartikel/d/diensteid.html.

[12] Hoffmann-Lange, Ursula: Eliten in den alten und den neuen Bundesländern, in: Deutschland Ost – Deutschland West. Die Folgen für den deutschen Vereinigungsprozess, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2000.

[13] Vgl. Wenzke, Rüdiger: «Bei uns können Sie General werden …» Zur Herausbildung und Entwicklung des «sozialistischen Offizierskorps» im DDR-Militär, in: Hübner, Eliten, S. 167–200, hier S. 199.

[14] Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts, Nr. 46/1997 vom 10.12.1997.

[15] So Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 774; Görtemaker weist auch die These einer personellen Kolonisierung des Ostens durch westliche Eliten zurück.

[16] Der Historiker und Soziologe Arnulf Baring hatte 1991 den Mangel an Initiative, Elan und schöpferischer Individualität in Ostdeutschland beklagt, diese Defizite allerdings dem SED-System angelastet. Das SED-Regime habe «die Menschen verzwergt, ihre Erziehung und Ausbildung verhunzt. […] Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom. Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar.» Baring, Arnulf: Deutschland was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf Jobst Siedler, Berlin 1991, S. 59 f.

[17] Vgl. Goedicke, Anne: Fachexperten und Leitungskader. Karrieren von Angehörigen der oberen Dienstklasse der DDR nach der Wende, in: Historical Social Research 1–2/2003, S. 247–269. Goedicke stützt sich auf die vielfach ausgewertete und zitierte Potsdamer Elitenstudie von 1995 sowie auf zwei Lebensverlaufsstudien des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin aus den Jahren 1991/92 und 1996/97, die retrospektive Lebenslaufinterviews Ostdeutscher enthalten.

[18] Hoffmann-Lange, Eliten in den alten und den neuen Bundesländern; vgl. Derlien, Hans-Ulrich: Elitenzirkulation zwischen Implosion und Integration. Abgang, Rekrutierung und Zusammensetzung ostdeutscher Funktionseliten 1989–1994, in: Wollmann, Helmut u. a.: Transformation der politisch-administrativen Strukturen in Deutschland, Opladen 1997, S. 329–415.

[19] Die Potsdamer Elitenstudie von 1995 verwies darauf, dass von 402 Elitepositionen in den neuen Bundesländern nur noch 60 Prozent von Ostdeutschen besetzt waren. Vgl. Goedicke, Fachexperten, S. 249.

[20] Ahbe, Thomas/Gries, Rainer: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR, in: Schüle, Annegret/Ahbe, Thomas/Gries, Rainer (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 475–571, hier S. 544.

[21] Hensel, Jana: Zonenkinder, Reinbek 2002, S. 75 ff.

[22] Lindner, Bernd: Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen für die Nachwendezeit, in: Schüle/Ahbe/Gries: Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive.

[23] Ahbe/Gries, Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte.

[24] Weiterführend: Angelow, Jürgen: Entsorgt und ausgeblendet. Elitenwechsel und Meinungsführerschaft in Ostdeutschland, 2. Auflage, Potsdam 2017, S. 43–56.